Torsten Casimir über Meinungsfreiheit auf der Buchmesse

Judoka mit braunem Gürtel

18. Oktober 2017
von Börsenblatt
Auf der Buchmesse präsentierte eine Handvoll Aussteller neurechte Inhalte, das Medienecho war groß. Wie damit umgehen? Ein Kommentar in vier Punkten und einer Fußnote von Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir.

7.300 Aussteller kamen. Eine Handvoll präsentierte an sehr kleinen Ständen neurechte Inhalte und machte Tamtam. Aber in der Presse und in den sozialen Medien erzeugen die Auftritte der wenigen ein Echo, als schlage das Herz der weltgrößten Buchmesse auf dem Rittergut Schnellroda, wo der aktuell berühmteste deutsche Verlag Antaios seinen Sitz hat. Was läuft hier schief?

Erstens: Die Idee, dass Meinungs­freiheit erst dann wirklich zur Geltung kommt, wenn eine Meinung schwer zu ertragen ist und doch geäußert werden darf, diese alte Idee der Voltaire-Biografin Evelyn Hall kennt kaum noch einer. Wir sind dabei, ein Grundrecht bis zur Schwundstufe ­zurückzuentwickeln. Da darf man sich nicht wundern, wenn ein bunter Chor ­demokratischer Hygienefachkräfte jetzt lautstark fordert, die Buchmesse solle ­unliebsame Teilnehmer ausschließen.

Zweitens: Buchmesse und Börsenverein haben den Fehler zum Glück nicht gemacht. Nach der Devise "abgrenzen, nicht ausgrenzen" haben sie stattdessen die Auseinandersetzung zum Beispiel mit Antaios gesucht. Dabei hat sich ein Paradox der Aufmerksamkeitsökonomie entfaltet, auf das sich Bewegungen an den Rändern einer Gesellschaft gut verlassen können: Wer sich gegen rechts positioniert, posi­tioniert zugleich auch die Rechten. Kleine Fläche – großes Bohei. Götz Kubitschek, Lieblingsverleger der "Identitären", durfte sich in der begehrten Rolle des Opfers gelassen zurücklehnen. Den Vorwurf der Intoleranz leiten die Rechten, denen am Austausch mit Andersdenkenden traditionell wenig liegt, auf die Seite derer, die Toleranz üben. Das geht wie im Kampfsport: die Kraft des Gegners geschickt gegen diesen selbst wenden. Da sind Judoka am Werk, Judoka mit braunem Gürtel.

Drittens: Die Logik der Empörung zu kennen, hilft kaum weiter. Ignorieren wäre keine Alternative. Provokationen gelingen immer, Schreierei, Schlägerei und dazu die Social-Media-Märchenstunde über die Repression der anderen. Parolen haben keinen Eigentümer: "Für das freie Wort, für das freie Denken, für das Buch!" Das deklamierte ausnahmsweise nicht, wie man meinen sollte, der Börsenverein, sondern Mario Müller, Antaios-Autor eines Handbuchs der "Identitären Bewegung", Titel: "Kontrakultur".

Viertens: Dennoch lässt sich etwas lernen aus der Eskalation. Szenen eines "Wo wart ihr Silvester?" skandierenden rechten Pöbels, wie sie sich am Messesamstag in Halle 4.2 ausgerechnet im Forum Wissenschaft & Bildung zugetragen haben, sind einer Buchmesse unwürdig. Damit sie sich nicht ereignen können, bedürfte es eines verbindlichen Auftretens der ­Polizei. In diesem Fall trat ein Herr mit Schirmmütze auf die Bühne, der physisch die Willenskraft des Feuerwehrwachmanns bei Theatervorstellungen ausstrahlte, und bewirkte – nichts.

Fünftens eine Fußnote: Meinungsfreiheit kommt nicht nur an politischen Rändern zu Schaden. Die Mitte demontiert sie mit. Beispiel: Wie viel Meinung darf es sein, wenn die Bundeskanzlerin zuhört? Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller hatte sich zu Beginn der Messe erlaubt, Frau Merkel auf zwei Themen öffentlich anzusprechen: das missglückte Urheberrechts-Wissensgesellschafts-­Gesetz und Merkels Einsatz für Meinungs- und Pressefreiheit weltweit, für den er sich noch mehr Entschiedenheit wünsche. Am nächsten Tag befand der "FAZ"-Herausgeber Jürgen Kaube: "Unter­bietung aller Höflichkeits- wie ­Diplomatiestandards". Ein Fall von Majestäts­beleidigung offenbar, den die Zeitung beanstandet. Erst die "Duell"-Sekundan­ten von ARD und ZDF, dann der Kanzlerinnen-Knuddler Steingart vom "Handelsblatt", jetzt die "FAZ": Journalisten wetteifern in letzter Zeit um die ­beste Eignung, zur Entourage der Macht überzulaufen. Warum bloß?