Torsten Casimir zur Lage in der Türkei

Nicht schweigen!

31. August 2016
von Börsenblatt
Schon lange zählt Meinungsfreiheit in der Türkei wenig. Unter der Regierung Erdoğan heute ein freies Wort zu riskieren, sei freiheitsgefährdend, meint Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir. Die Politik in Deutschland und Europa dürfe dazu nicht länger schweigen.

Das Kaffeetrinken ist in der Türkei seit Jahrhunderten beliebt – als eine Tradition kulturvollen Genießens. In diesen Tagen, ­berichtet uns der Dichter Nico Bleutge, der längere Zeit Stipendiat in Istanbul war, treffen Türken sich besonders gern auf einen Kaffee. Aber nicht ihre Tradition ist dafür der Grund, sondern ihr Wunsch, sich offline mal vor dem allgegenwärtigen Überwachungsstaat sicher zu fühlen. Äußerungen bei einem Mokka sind den Zensoren nicht so leicht zugänglich wie E-Mails oder Posts in den sozialen Medien. Angst geht um im Land des Autokraten Erdoğan. Denunziation und Misstrauen beherrschen den Alltag. Verlage werden ohne Angabe nachvollziehbarer Gründe geschlossen, Autoren verfolgt und verhaftet. Nicht nur Regierungstruppen, auch Horden marodierender »Demokratiewächter« gehen gegen Leute vor, die »falsch« denken, reden, schreiben. Brandsätze werden in Buchhandlungen geworfen, unliebsame Bücher beschlagnahmt. Um es paradox zu formulieren: In der Türkei heute ein freies Wort zu riskieren, ist freiheitsgefährdend.

Im diesen Donnerstag erscheinenden Börsenblatt und hier auf boersenblatt.net kommen Verleger und Autoren zu Wort, die sich dem »Säuberungswillen« der Macht nicht beugen möchten. Es war schwierig, überhaupt türkische Gesprächspartner zu finden. Die meisten ziehen es vor, zu schweigen. Selbstzensur wird zur Normalität in einem Land der Verbote und der Repression. Dass aber die Politik in Deutschland und Europa dazu schweigt, darf nicht sein. Schon 30 000 Unterstützer hatten am frühen Mittwochmorgen deshalb eine Petition an die Bundeskanzlerin und den Präsidenten der Europäischen Kommission unterschrieben. Die Initiatoren Börsenverein, PEN Deutschland und Reporter ohne Grenzen rufen darin die Politiker auf: »Fordern Sie Meinungsfreiheit in der Türkei!« Auch Verleger und Buchhändler in Deutschland sind zur Stellungnahme eingeladen und dazu, sich solidarisch zu zeigen mit den türkischen Kolleginnen und Kollegen. Viele von ihnen waren vor acht Jahren als Ehrengast der Buch­messe willkommene Geschäftspartner. Jetzt hat man ihnen daheim die Voraussetzung für jedes Buchgeschäft entzogen: die Meinungsfreiheit.


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