Zum Tod von Karl Dedecius

"Ich muss noch aufräumen"

29. Februar 2016
von Börsenblatt
Karl Dedecius ist am vergangenen Freitag gestorben, im Alter von 94 Jahren. Martin Schult erinnert an den Friedenspreisträger von 1990, für den das Übersetzen und die Friedenspolitik vieles gemeinsam haben.

Vorne in der Paulskirche, in der ersten Reihe in Block D ist seit 1991 sein Stammplatz gewesen. Von hier aus hat Karl Dedecius, gemeinsam mit anderen Friedenspreisträgern, die Reden seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger verfolgt, um anschließend zu betonen, wie froh er um die ein oder andere Entscheidung sei, aber dass endlich auch mal wieder ein polnischer Schriftsteller diesen Preis erhalten müsse. Kein Wunder also, dass uns jedes Jahr ein Brief erreichte, in dem Dedecius dezidiert darlegte, warum er diesen oder jenen polnischen Autor für friedenspreiswürdig erachte.

Russisch rettete ihm das Leben

"Liebhaberei" nannte Karl Dedecius das, wofür er selbst mit dem Friedenspreis ausgezeichnet wurde: die Übersetzung, Sammlung und Herausgabe polnischer Dichtkunst. 1921 als Sohn deutschstämmiger Eltern im polnischen Lodz geboren, wurde er gleich nach dem Überfall der Deutschen auf Polen im Jahr 1939 zur Wehrmacht eingezogen, und geriet, vier Jahre später und ernsthaft erkrankt, in Stalingrad in sowjetische Gefangenschaft. Hier lernte er Russisch, was, wie er selbst betonte, ihm das Leben gerettet habe, und beschäftigte sich mit russischer Literatur.

Nach der Kriegsgefangenschaft ging er 1950 nach Weimar, übersetzte für das dortige Theater vor allem russische Stücke und heiratete seine langjährige Verlobte Elvira Roth, die mit ihrer Familie nach der Vertreibung aus Polen hier gestrandet war. Mit ihr flüchtete er zwei Jahre später in den Westen, um den fortwährenden Versuchen seitens der SED, ihn zu indoktrinieren, zu entgehen. In Frankfurt fand er Anstellung bei einem großen Versicherungsunternehmen, was ihm ermöglichte, sich in den folgenden Jahren nebenberuflich mit der Übersetzung polnischer Gedichte zu befassen.

Der Hüftschwung der Poesie

Auf welchen Wegen damals manchmal die junge und unbekannte polnische Lyrik nach Westdeutschland gekommen ist, zeigt die Veröffentlichung der Lyrischen Blätter 1958. Herausgeber Reimar Lenz hat hierfür Gedichte aus der polnischen Zeitschrift "Zebra" zusammengestellt, die ihm ein Jahr zuvor in Moskau übergeben wurden. Eine von Dedecius gerne mit einem Augenzwinkern erzählte Anekdote handelt von dem hierin veröffentlichten Gedicht "Bitte um Erleuchtung der Dichter" von Marek Rożynek mit dem Ausschnitt:

"Aber unbekannten Dichtern 
zeig eine Reihe einfacher Mädel 
mit Hüften in Form  
des Wortes: OKOCHA."

OKOCHA nun einfach mit Zuspruch oder Hoffnung zu übersetzen, wäre, so Karl Dedecius, zwar auf dem ersten Blick richtig, würde aber der vom Dichter gewünschten Wirkung nicht gerecht werden. Dedecius schleppte das Wort einige Tage mit sich herum, bis er – vor allem durch den anwesenden Vokal – eine befriedigende, sich der "Hüftform anpassende Entsprechung" gefunden habe: MUT.

In den folgenden Jahrzehnten veröffentlichte er nach der 1959 von ihm herausgegebenen ersten Anthologie "Lektion der Stille" zahlreiche weitere Gedichtbände und Anthologien, sowie eigene Essays zu Literatur und Übersetzungstechnik. Als seine Hauptwerke gelten die 50-bändige "Polnische Bibliothek" (1982-2000), sowie das siebenbändige "Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts" (1996-2000).

Übersetzen bändigt Gegensätze

Hieronymus, "unter Slawen geboren, Lateiner durch literarische Bildung", sei hierbei, wie Dedecius in seiner Friedenspreisrede betonte, immer sein Patron und Vorbild gewesen, "ein Grenzgänger, einer, der in der Zerrissenheit seiner Zeit eine Klammer sein wollte." Denn in der Kunst des Übersetzens, "jenes bewegte, unsichere Dasein zwischen Alternativen", seien, so Dedecius weiter, jene pädagogischen Qualitäten zu finden, die an den Grundlagen der Friedenspolitik mitarbeiteten.

Das Übersetzen "bändigt Gegensätze. Es bringt Ungleiches auf einen gemeinsamen Nenner. Es übt die Selbstlosigkeit, die Anpassungsfähigkeit und die Toleranz - alles Eigenschaften, die wir dringend nötig haben. Es ist eine der seltenen Botschaften, die zwei sich fremd, oft verständnislos gegenüberstehenden Völkern und Kulturen zugleich einen guten Dienst erweist."

Diese "Friedens"-Tätigkeit, aber auch die anderen Qualitäten Dedecius', mit denen er sich unter anderem 1979 beim Aufbau des Deutschen Polen-Instituts bewährte (das er als Direktor bis 1997 leitete), bewegten seinen Laudator Heinrich Olschowsky zu der Aussage, dass Dedecius niemals Rücksicht auf die jeweilige politische Konjunktur gezeigt habe: "In all dem Hader [der politischen Debatten der 1970er und 1980er Jahre] hat Dedecius, ein Mann des Ausgleichs, den Konflikt von sich aus nicht gesucht. Er hat ihn gelassen ertragen und seinen Weg unbeirrt fortgesetzt. Bei Betrachtung aller Bereiche seines Wirkens zeigt sich eine durchgehende Haltung: Die Spannung unaufhebbarer Gegensätze lockt Karl Dedecius nicht – weder im Leben der Völker noch in der Kultur und der Poesie. Er wünscht die Aufhebung der Gegensätze in einer eher nach dem Paradigma der Chemie als der Dialektik vollzogenen Synthese. Ein umfassendes Bedürfnis nach Harmonie, nach der goldenen Mitte des Maßes und der Mäßigung prägt seine geistige Welt."

Ein Gebot der Hygiene

Als Boualem Sansal im Jahr 2011 den Friedenspreis erhielt, kam Karl Dedecius ein letztes Mal in die Paulskirche. In den darauffolgenden Jahren rief er stets drei, vier Wochen vor der Verleihung an. Das Kommen sei ihm mittlerweile zu mühsam, entschuldigte er sich dann, "und das verehrte Publikum in der Paulskirche möchte auch keine alten Knacker mehr wie mich sehen."

2013 hatte ich ihn fast so weit, dass er doch noch einmal an der Verleihung an "die von mir sehr verehrte" Swetlana Alexijewitsch teilgenommen hätte. Doch zwei Tage vorher kam die Absage. Es sei noch so viel zu tun, er sei am Sortieren und Ordnen, er müsse noch ein weiteres Buch aus den literarischen Schätzen in seiner Wohnung vorbereiten, und ja, aufräumen, vor allem das müsse er. "Aber grüßen Sie mir diejenigen, die mir gewogen sind" – was ich mit einem abschließenden Zitat aus seiner Friedenspreisrede hiermit gerne tue: "Friede ist keine bloße Idee der Religionsstifter, der Philosophie oder der Staatskunst. Friede ist, wie das tägliche Waschen der Hände und des Gesichts, ein Akt der persönlichen, ein Gebot der allgemeinen und permanenten Hygiene in unserem Alltag."

Martin Schult, Autor des Nachrufs, ist Friedenspreis-Referent des Börsenvereins.