Ein Roman in Emojis

Als die Bilder laufen lernten

15. Mai 2015
von Börsenblatt
Emojis werden von vielen als Rückschritt der Schreib- und Lesekultur verpönt. Nun ist ein leseswerter Roman allein in Emojis erschienen

Zum jüngsten iPhone-Update, in dem auch eine neu gestaltete Emoji-Tastatur enthalten ist, erschienen über diese kleinen Bildsymbole mehrere, teils umfangreiche Artikel, u.a. in der Süddeutschen Zeitung und im Spiegel. In diesen Beiträgen konnte man allerhand über Emojis erfahren. Beispielsweise dass es mittlerweile über 1.000 dieser Zeichen gibt, oder dass sich der Schriftsteller Vladimir Nabokov schon 1969 wünschte, »dass ein spezielles typographisches Zeichen für ein Lächeln existieren solle«. Inzwischen existieren mit Emojicate und Emojli soziale Netzwerke, in denen ausschließlich Emojis gepostet werden können. Sogar Musik wurde schon »übersetzt«. Auf YouTube kann man den Song Royal von Lorde als Emoji-Film anschauen.

»Emojis zerstören keine Traditionen«, erklärte die amerikanische Sprachforscherin Lisa Lebduska im Spiegel. »Sie erweitern die sprachlichen Möglichkeiten und stellen damit sicher, dass die Kurznachrichten, die wir senden, auch richtig verstanden werden.« Und der Google-Programmierer Mark Davis bezeichnete Emojis als »emotionale Kurzschrift der Onlinekommunikation«.

Moby Dick in Emoji übersetzt

Gemeinsam mit 800 Mitarbeitern, die über Amazon Mechanical Turk rekrutiert wurden, ließ der amerikanische Netzexperte Fred Benenson sogar Hermann Melvilles »Moby Dick« in die neue Weltsprache übersetzen. Doch wirklich lesen kann man das Buch, das unter dem Titel »Emoji Dick« erschienen ist, nicht. Selbst Benenson musste zugeben, dass »ein Großteil des Buches keinerlei Sinn ergibt.«

Der erste lesbare Emoji-Roman

Erstaunlicherweise blieb in allen Artikeln, die ich zu diesem Thema gelesen habe, gänzlich unerwähnt, dass vor einem Jahr ein tatsächlich lesbarer Roman in Emoji erschienen ist, vermutlich der erste, der je geschrieben wurde: Book from the Ground. Sein Autor ist der chinesische Künstler Xu Bing, der in Deutschland so gut wie unbekannt ist. Nicht einmal (die deutsche) Wikipedia würdigt ihn mit einem Eintrag. Xu Bing hat fast zehn Jahre an dem Projekt gearbeitet und erzählt in seinem Roman (nicht ohne einen zwinkernden Seitenblick auf Ulysses von James Joyce) einen Tag im Leben eines typischen städtischen Angestellten. Einen normalen Arbeitstag mit seinen ups and downs. Dieses Buch benötigt keine Übersetzungen, jeder moderne Mensch kann es lesen. In seinem Book from the Ground drückt sich für Xu Bing der Wunsch nach einer einzigen universell verstehbaren Sprache aus – und sein Gespür für die Möglichkeiten zeitgenössischer Kommunikation.

Das Book from the Ground anschauen

Da die Möglichkeiten der visuellen Wiedergabe von Beispielseiten aus dem Book from the Ground auf diesem Blog (noch) nicht in ausreichendem Maß gegeben sind, habe ich ein paar Kostproben auf einem befreundeten Blog gepostet: Berliner Buchhändler Club. Viel Spaß bei der Lektüre!