Wissenschaftsverlage: Auf dem richtigen Weg?

Die Zukunft des Vertriebs

21. Oktober 2015
von Börsenblatt
Innovation ist ein Buzzwort im Verlagswesen. Und der Vertrieb erscheint in dieser Diskussion des Öfteren als Anhängsel, als quasi nachgeordnetes Ergebnis der Innovationen in den Verlagen. Dabei war es historisch genau umgekehrt.

Die neuen technischen Möglichkeiten bei der Distribution von Zeitschriften- und Buchinhalten zogen Veränderungen in der Vertriebsarbeit von Verlagen nach sich. Und es ist heute das Self Publishing, das mit zunehmender Intensität Workflows in den produzierenden Unternehmen der Buchbranche in Frage stellt. Während man den Eindruck gewinnen kann, dass die unterschiedlichen Segmente der Medienbranche sich weltweit durch die Digitalisierung weiter auseinander differenzieren (ganz anders als dies viele Beobachter vermutet hatten), ist ihnen doch eines gemein: Sie werden wesentlich stärker durch Distributionsbedingungen geprägt als es in der Vergangenheit der Fall war.


Von Hinten in die Brust

Die Verlagsbranche neigt traditionell zu starken Abwehrreflexen gegen Innovationen in ihrer Wertschöpfungskette. Das erstaunt umso mehr, als sie immer schon inhaltlich wie kaum eine andere Industrie durch Neuerungen getrieben und wirtschaftlich von ihnen abhängig ist. Amazon als Marktteilnehmer, Open Access und Self Publishing als Publikationsformen – nur wenige Verlage und Händler haben früh das positive Potenzial dieser Veränderungen für ihr eigenes Geschäft erkannt und es konsequent in ihren Produkt- oder Vertriebsmix eingebunden. Die meisten Branchenteilnehmer hingegen haben durch ablehnendes oder halbherziges Handeln zum raschen Erfolg von Innovationen beigetragen, die für das Kerngeschäft von Verlagen so revolutionär gar nicht sind. Diejenigen, die sich Neuheiten früh analytisch genähert haben, profitieren nun in Form guter Marktpositionen und vom Wissensvorsprung, den andere nur schwer aufholen können.


Fragmentierung als neue Herausforderung

Fach- und Wissenschaftsverlage, häufig als die Avantgarde der Zunft gelobt, sind dabei keine Ausnahme. Ihre Vorreiterrolle verdanken sie in Wirklichkeit nur einem höheren Druck seitens ihrer Kunden (meist Bibliotheken und Unternehmen) und Nutzer (Wissenschaftler und Studierende). Deren Interesse an sehr spezialisierten Inhalten und die hohe Bedeutung von zeitlichem Vorsprung im wissenschaftlichen Wettbewerb führen zu größerem Veränderungsdruck als im Kinder- und Jugendbuch oder in der Belletristik.

Ein Blick auf die Startups im Bereich der Wissenschaftsverlage zeigt deutlich: Die Intensität des Zwangs zur Neuerung steigt am stärksten an der Schnittstelle von Inhalt und Nutzer, also beim Vertrieb an den Endkunden. Das heißt: Hier können neue Unternehmen am besten in den Markt eintreten, weil die etablierten Spieler in der Breite keine Lösungen mehr bereithalten, die ihre Nutzer zur regelmäßigen Rückkehr veranlassen und damit zu einem stabilem Geschäft beitragen.


Customers’ Darling

Ein Blick auf das wachsende Portfolio von Anbietern wie der Holtzbrinck-Tochter Digital Science oder auf Kudos, aber auch auf die sich ausdifferenzierende Landschaft der Dienstleistungsanbieter im Bereich des Self Publishing belegt: Der direkte Kontakt mit den Wissenschaftlern ist von Verlagen lange vernachlässigt worden. Erfreulich ist, dass jetzt viele Entscheidungsträger dies verstanden haben und entsprechend umsteuern. Allerdings: Diese Aktivitäten sind noch längst nicht im Kerngeschäft der Verlage angekommen. Und es wird einem grundsätzlichen Umdenken in der Akquisition und Bearbeitung von Inhalten bedürfen, um neue Angebote langfristig verankern zu können. Die regelmäßige Aktualisierung von Referenzinhalten, etwa der durch die Max-Planck-Gesellschaft begründeten Living Reviews, sind hier eine interessante Ausnahme.

»Big Deal« am Ende?

Wie wirkt sich die Neuentdeckung des Kontakts mit dem Kunden auf Geschäftsmodelle von Wissenschaftsverlagen aus? Das Lieblingsmodell der Großen, der »Big Deal«, verdient hier besondere Beachtung. Seine Verfechter meinen, Bibliothekskunden würden idealerweise alle Inhalte eines Verlags in Form eines Jahresabos kaufen – und behielten aller Zeterei zum Trotz in der Vergangenheit oft genug Recht mit ihrer These. Eingeführt wurde der »Big Deal« in der Hoffnung, durch Volumenwachstum Absatzrückgänge auf der Ebene einzelner Titel (über)zukompensieren und sich die »Bequemlichkeit« von Bibliothekaren zunutze machen zu können. Doch dieses Modell hat ein natürliches Ende, spätestens, wenn die Volumensteigerung teurer wird als die Gewinnung neuer Kunden. Und danach sieht es mittlerweile aus. Eine Entsprechung zum »Big Deal« findet man übrigens in Abonnement-Vertriebsmodellen auch im Publikumsmarkt.

Was also, wenn »all you can eat« einer echten Nutzerorientierung weicht? Und wie können gerade kleinere Verlage, die oft mit den Großen beim »Big Deal« paktiert haben, ihre neue Rolle finden? Konnten Verlage in der Vergangenheit in Form strategischer Partnerschaften ohne eigenes Bilanz-Risiko ihre Angebote von Buch- und Zeitschriftentiteln stark steigern und dabei den meist kleineren Partnern die Kosten der Inhalte-Erstellung aufbürden, steigt die Unzufriedenheit dieser Partner im »Big Deal« derzeit enorm: Ist das erfreuliche digitale Umsatzwachstum der ersten Monate nach Online-Stellung mitgenommen, flacht das Wachstum rasch ab – und die Print-Geschäfte verlieren gleichzeitig deutlich an Volumen. Zugleich realisieren die Partner, dass es fast unmöglich ist, sich aus der einmal eingegangenen Partnerschaft wieder zu lösen – zu intransparent das Gebaren der Großen bei der Preisgestaltung und beim Produktbundling. Vor allem jedoch: Der Verlust des direkten Kundenkontakts und der Preisgestaltung, gepaart mit geringerer Sichtbarkeit der eigenen Produkte im Markt, erweist sich als schlechter Deal.

Transparenz als Lösung

Wenngleich der »Big Deal« für alle Teilnehmer auch ein gerüttelt Maß an Problemen mit sich bringt: Er ist ein legitimes und von einer bestimmten Art von Kunden geschätztes Vertriebsmodell. Kunden erwarten im Zeitalter der Digitalisierung prinzipiell, dass alle Inhalte dann verfügbar sind, wenn sie gebraucht werden. Die Aggregation dieser Inhalte ist zur Reduzierung der Komplexität sinnvoll. Sie funktioniert jedoch langfristig nur mit einem Höchstmaß an Transparenz für alle Beteiligten: Kunden und die Partner, die ihre Inhalte den Vertriebs-Verlagen überlassen, müssen sich darauf verlassen können, dass der »Big Deal« nicht zum irreversiblen Albtraum wird.