Digitalmedienschelte ist ein Irrweg

Welt, bleib wach? So nicht!

7. Februar 2019
von Börsenblatt
Bei allem Respekt für das Thalia-Team, das ich wirklich sehr schätze: Die neue Werbekampagne unter dem Motto „Welt, bleib wach!“ ist aus meiner Sicht als Romanautor (Pseudonym „Karl Olsberg“) ein Schuss in den Ofen. Und sie offenbart einen grundlegenden Denkfehler unserer Branche.

"Wir haben es uns zum Ziel gesetzt, Menschen wieder für das Lesen zu begeistern“, schreibt Thalia auf der Website zur Kampagne. „Unsere Welt ist zunehmend schnelllebig und oberflächlich - geistiges Junk Food dominiert. Die Menschen haben verlernt, tief in Inhalte einzutauchen. Jeder Vierte liest überhaupt nicht mehr. Das wollen - und müssen - wir ändern.“

Wie könnte man dem nicht zustimmen, besonders, wenn man wie ich vom Romaneschreiben lebt? Die Analyse der Ausgangslage, die hier elegant verdichtet ist, teile ich uneingeschränkt. Bei der Frage allerdings, wie man dieses Problem angehen sollte, bin ich etwas anderer Ansicht.

Das geht schon beim Slogan los. Nicht nur, dass man den nicht auf Anhieb versteht, wenn man ihn nicht erklärt bekommt, er ist zumindest in Bezug auf Belletristik auch inhaltlich falsch: Das Letzte, was ich als Autor will, ist, dass die Käufer meiner Romane beim Lesen „wach“ bleiben. Natürlich will ich auch nicht, dass sie vor Langeweile einschlafen. Aber ich möchte, dass sie ihre Umgebung vergessen, in meiner Roman-Traumwelt versinken, bis sie idealerweise nicht mehr wissen, wo und wer sie sind. Das ist genau das Gegenteil von „wach“.

Natürlich ist mir klar, dass das so nicht gemeint ist. Die Kampagne macht in ihren Motiven ja deutlich genug, wogegen sie sich wendet: Der Feind lautet Smartphone („Die Welt hat mehr Geheimnisse, als Siri kennt“, „Apple aus, Birne an“), soziale Medien („Statt twittern mal wieder ein Buch lesen – das Grundgesetz zum Beispiel“, „Es gibt mehr Gefühle als Emojis“) und Onlinevideos („Fantasie lernt man in keinem Youtube-Tutorial“).

Das deckt sich mit der Einschätzung des Börsenvereins: „Die große Mehrheit derer, die heute weniger Bücher kaufen als früher, fühlt sich von den Erwartungen und der Schnelllebigkeit des modernen Alltags gestresst und unter Druck gesetzt, nicht zuletzt durch Social Media“, kommentiert Alexander Skipis den breit beklagten Leserschwund. „Sie haben das Gefühl, ständig reagieren und dranbleiben zu müssen, um nicht abgehängt zu werden. Durch mangelnde Zeit, aber auch durch eine sinkende Aufmerksamkeitsspanne greifen die Menschen seltener zum Buch.“

Die digitalen Medien sind schuld an unserem Niedergang, also müssen wir sie bekämpfen, lautet anscheinend die der Kampagne zu Grunde liegende Erkenntnis. Wir müssen den Menschen klar machen, dass sie dumm sind, wenn sie keine Bücher lesen („Donald Trump liest nicht gern“ – übrigens mein Lieblingsmotiv), denn das Buch ist „nach wie vor das herausragende Medium, um Gedanken eine Form zu verleihen, Geschichten hervorzubringen und gesellschaftliche Debatten anzustoßen“, wie Heinrich Riethmüller anlässlich der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse sagte. Mit anderen, etwas überspitzten Worten: Nur die Buchbranche kann die Welt noch vor der totalen Verblödung durch digitale Medien retten.

Diese Sichtweise ist meines Erachtens nicht nur überheblich, arrogant und inhaltlich falsch (weiß Gott nicht alles, was in Büchern steht, ist kulturell wertvoll oder auch nur ansatzweise wahr). Darauf aufbauend Leser mit der Moralkeule zum Lesen treiben zu wollen ist vor allem völlig wirkungslos. Oder glaubt tatsächlich irgendjemand, dass sich die Betrachter der Plakate spontan entschließen, ihren Instagram-Account zu löschen, ihr Netflix-Abo zu kündigen, ihr Smartphone auszuschalten und sich brav jeden Mittwochabend zum Lesen auf die Wohnzimmercouch zu verdrücken? Wenn überhaupt, dann spricht die Kampagne denjenigen aus dem Herzen, die schon immer der Ansicht waren, Digitalisierung sei Teufelszeug – also genau jenen, die die noch verbliebenen Stammkunden in Buchhandlungen sind.

Ich will hier nicht auf der Thalia-Marketingabteilung herumhacken. Die Motive sind witzig gemacht und sehr aufmerksamkeitsstark, außerdem unterstütze ich das Ziel, Leser für Bücher zurückzugewinnen, uneingeschränkt. Aber die Kampagne offenbart meines Erachtens ein grundlegendes Problem der Branche, das sicher nicht nur den größten stationären Buchhändler betrifft: Statt die Digitalisierung als Chance zu begreifen, sehen viele sie – oft unausgesprochen hinter einer brüchigen Fassade aus Zweckoptimismus („Die Buchbranche ist stabil“) – als ihren schleichenden Untergang, und damit auch den Untergang der Kultur. Sie definieren sich über das Medium „Buch“ – womit sie oft immer noch bedruckte, gebundene Papierseiten meinen – statt über dessen Inhalte. Sonst würden wir nämlich nicht über die „Buchbranche“ reden, sondern über die „Erzähl- und Wissensvermittlungsbranche“ – und würden die digitale Welt plötzlich mit ganz anderen Augen betrachten.

Wir würden erkennen, dass die Digitalisierung neue, spannende Formen des Erzählens ermöglicht (Computerspiele zum Beispiel, intelligente Serien wie „Breaking Bad“ oder interaktive Hörspiele mit Smart Speakern, siehe dazu auch den jüngsten Blogbeitrag von Steffen Meier), von effektiveren Formen der Wissensvermittlung ganz zu schweigen. Wir würden Wikipedia und Wattpad als intelligente Vorreiter unserer Branche sehen, von denen wir alle lernen können und müssen. Wir würden auf den Rat des Harvard-Professors Bharat Anand hören und uns mehr Gedanken über die Vernetzung unserer Erzeugnisse mit anderen (nicht nur digitalen) Medien machen, um nicht in die „Content Trap“ zu fallen. Wir würden uns die Worte Benjamin Talins zu Herzen nehmen, der vor Kurzem auf die „Sonntagsfrage“ des Börsenblatts danach, was der Buchbranche zur digitalen Transformation fehle, unter anderem antwortete: „Vor nicht allzu langer Zeit gab es noch sehr starke vertikale Industrien. TV, Radio, Zeitung, Buch etc., mit klaren Grenzen von anderen Branchen abgetrennt, konnten sie in ihren Gebieten wachsen. Doch nun brechen diese klaren Grenzen zusammen und wir erleben eine Vermischung der Medienindustrien bzw. eine Verlagerung von der vertikalen hin zu einer horizontalen Medienwelt. Dieser 90° Flip der Industrie, lässt speziell aus Kundensicht die Kanäle unscharf werden und ineinander verschmelzen.“

Wie man Medienvernetzung in der Praxis für die Leseförderung nutzen kann, möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen: Als Autor bekomme ich immer wieder begeisterte Zuschriften von Müttern, deren Söhne ich zum Lesen verführt habe. Und das nicht, indem ich diesen lesefaulen Jungs im Alter von 8-12 Jahren damit gedroht habe, dass sie eines Tages US-Präsident werden, wenn sie nicht sofort mit dem Lesen anfangen. Stattdessen habe ich sie dort abgeholt, wo sie waren: In ihrem Lieblings-Computerspiel Minecraft. Dieses Spiel ist ein Musterbeispiel für die Macht der medienübergreifenden Vernetzung: Ursprünglich von dem schwedischen Programmierer Markus Persson, genannt „Notch“, im Alleingang entwickelt, ist das auf den ersten Blick antiquiert wirkende Spiel mit über hundertfünfzig Millionen verkauften Exemplaren eines der erfolgreichsten überhaupt. Dieser Erfolg wurde nur durch die oft gescholtenen sozialen Medien möglich, insbesondere durch so genannte „Let’s Play“-Videos auf Youtube, die unter anderem Stars wie Gronkh, Concrafter und den Nr. 1-SPIEGEL-Bestsellerautor Paluten hervorgebracht haben. Auch ich verdanke einen meiner spektakulärsten Erfolge – Platz 2 in den Amazon-Charts – einem Youtube-Video von Concrafter, in dem er meinen ersten Minecraft-Roman seinen Fans empfahl. Umgekehrt tragen auch meine Bücher zum Erfolg des Spiels bei (wenn auch natürlich nur in vergleichsweise geringem Maß): Sie enthalten einen so genannten „Seed“, mit dem man die Schauplätze, die ich im Buch schildere, im Spiel besichtigen kann.

Nicht Digitalmedienschelte und Abgrenzung sind also der Weg, um die Bereitschaft zum Lesen langer Texte langfristig zu fördern, sondern Vernetzung und Integration. Nicht Entweder-oder, sondern Sowohl-als-auch (das gilt auch für die Frage, ob digital oder gedruckt gelesen wird). Nicht das Nutzerverhalten schlecht reden, sondern Neugier und Begeisterung für das Lesen wecken, egal in welcher Form. Lesebegeisterte „Influencer“ auf Instagram, Twitter und Youtube feiern statt ihre Medien zu verteufeln. Wir sollten weniger über schlechte Inhalte im Netz reden und mehr über gute Geschichten (und sie vielleicht auch kreativer im Handel inszenieren). Vor allem müssen wir mehr Experimente wagen, statt das Neue aus Furcht zu verdammen.

Tatsächlich läuft in den sozialen Medien vieles falsch, und auch ich glaube, dass wir mehr „Digital Detox“ brauchen. Aber Lust aufs Lesen weckt man mit Moralpredigten ebenso wenig, wie man Kindern Spinat mit der Aussage „der ist aber gesund“ schmackhaft macht. Das Lesen und Erzählen großer, aufregender und gut gemachter Geschichten beschränkt sich eben nicht nur auf das Medium „Buch“, wie immer man es definiert. Aber wenn wir es richtig angehen, dann können die digitalen Medien von der Nemesis der Branche zu ihrem Freund und Förderer werden. Das gilt explizit auch für das gedruckte Buch: Obwohl meine Minecraft-Bücher zuerst im Selfpublishing erschienen sind, verkaufte ich von Anfang an 80% als gedruckte Ausgaben, die weitaus meisten dank Youtube-Videos und des Austauschs über meine Bücher in sozialen Medien.

Buchbranche, wach auf!