Buchhandel am Scheideweg

Quo vadis, Sortiment?

20. März 2015
von Börsenblatt
Volker Oppmann plädiert für ein radikales Neudenken unserer Branche

Im Netz wird das, was in der physischen Welt unsere größte Stärke ist, zu unserer größten Schwäche: Eine möglichst hohe Zahl an möglichst dezentralen Verkaufsstellen in Verbindung mit einem vorgefilterten und damit deutlich reduziertem Angebot. Diese erleichtern in der »realen« Welt den Zugang zu Inhalten allein schon aus Gründen der statistischen Wahrscheinlichkeit: Denn je mehr dezentrale Buchhandlungen es gibt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich in meiner Nähe eine solche befindet.

Nähe ist das Zauberwort für einfache Orientierung und schnellen Zugang: Ich muss nicht erst aus 5.000 Buchhandlungen auswählen oder von Berlin nach München fahren – ich nehme einfach diejenige, die für mich am Besten zu erreichen ist. Eine kompetente Filterung des Angebots durch ein gut präsentiertes Sortiment erleichtert die Orientierung zusätzlich. Die menschliche Kapazität Informationen zu bearbeiten ist schließlich begrenzt.

Die Online-Welt als Negativ
In der Online-Welt kehren sich all die oben genannten Vorteile nun in ihr genaues Gegenteil. Nähe wird irrelevant, da jede Adresse im Web gleich gut zu erreichen ist. Ein Leser benötigt nicht 5.000, sondern exakt eine Anlaufstelle im Netz. Also für welchen Shop entscheiden? Der Kunde hat im Netz kein Verständnis für ein eingeschränktes Sortiment. Er erwartet, dass er das, wonach er sucht, auch direkt findet. Hier entpuppt sich unser Branchen-Trumpf, das VLB, als Schwarzer Peter. Die Gretchenfrage lautet nämlich, wie wir es mit der Lieferbarkeit halten. Lieferbarkeit bedeutet in diesem Kontext leider lediglich »aus aktueller Verlagsproduktion«. Diese deckt aber nur einen Teil des Buchmarkts ab. Es fehlen die antiquarischen Bestände, die Selfpublisher, ein Großteil der rechtefreien sowie nahezu alle fremdsprachigen Titel – alles Bestände, die Amazon konsequent in seinen Katalog integriert.

Selbst eine unserer größten Stärken vor Ort, die persönliche Beratung, können wir im Netz nicht ausspielen, da die gängigen Shop-Systeme keine direkte 1:1-Kommunikation unterstützen. Im Spiel um den Online-Markt haben wir aktuell also leider kein gutes Blatt auf der Hand. Noch schlechter sieht es im Spiel um den digitalen Buchmarkt aus. Hier sitzen wir nämlich gar nicht erst mit am Tisch.

Der springende Punkt ist, dass der deutsche Buchhandel – von der Tolino-Allianz einmal abgesehen – schlichtweg kein eigenes Produkt hat, wenn es ums digitale Lesen, um eBooks geht. Und damit meine ich keine Lesegeräte, sondern Lese-Software samt der dazugehörigen serverseitigen Infrastruktur.

Wandel des Geschäftsmodells
Es geht in der digitalen Welt nicht länger nur darum, Inhalte zu verkaufen. Der Schlüssel liegt in der Nutzung von Inhalten. Kerninteresse eine jeden Lesers ist schließlich nicht das Kaufen, sondern das Lesen von Büchern. Nur dass ich als Nutzer mit einer eBook-Datei allein herzlich wenig anfangen kann. Ohne eine entsprechende Software, die mir meine eBook-Datei entpackt und darstellt, hat ein eBook nicht den geringsten Wert.
Oder anders ausgedrückt: Alles, was ich als »Ausstattung« eines eBooks wahrnehme, was meinen Lesekomfort erhöht – angefangen vom Öffnen der eBook-Datei über Einstellung der Schriftgröße, Wahl der Formatierung bis hin zum Erstellen von Lesezeichen, Textmarkierungen und Anmerkungen – sind nicht etwa Eigenschaften meiner eBook-Datei, sondern der ausführenden Software.

In einem Markt, wo jeder Anbieter nur einen Klick entfernt ist und in dem ich mich als Händler weder über den Preis noch über Auswahl differenzieren kann, wird die Ausstattung, d.h. die Software, zum alles entscheidenden Wettbewerbsfaktor.

Die Perspektive der Kunden
Der virtuelle Ort, an dem ich mich als Leser aufhalte, wird Teil meiner persönlichen Lebensrealität. Die Trennung zwischen Privatsphäre (mein heimisches Billy-Regal) und öffentlicher Sphäre (des Handels und der Bibliotheken) löst sich auf – alles verschmilzt zu großen »Cloud-Libraries«. Meine Lese-Software ist mein privates Bücherregal ist meine Buchhandlung ist eine öffentliche Bibliothek ist meine Lese-Community. Alles ist bzw. wird eins.

Die Software, die uns auf unseren Endgeräten entgegenblickt, ist dabei nur die Spitze des Eisberges. Nicht minder entscheidend ist das, was unter der (Nutzer-) Oberfläche liegt: die serverseitige Infrastruktur. Oder salopp auf den Punkt gebracht: In der physischen Welt ist entscheidend, was vor dem Kauf passiert, in der digitalen Welt, was nach dem Kauf passiert.

Und wie weiter?
Unsere Kernaufgabe ist die Vermittlung von Inhalten, die immer mehr auf elektronischem Wege erfolgt. Im Gegensatz zu Autos oder Lebensmitteln lassen sich Bücher nämlich wunderbar digitalisieren. Das Problem besteht darin, dass unsere Branche immer abhängiger und getriebener von einer Technologie wird, die wir allenfalls anwenden, aber nicht selbst entwickeln. In dieser digitalen Welt sind wir, die wir keine Programmiersprachen beherrschen, die Analphabeten. Und es reicht nicht, sich auf Dolmetscher = Dienstleister zu verlassen. Wir müssen selbst Sprachkompetenz aufbauen, uns die Technologie aneignen, wenn wir unser Dasein nicht in analogen Reservaten fristen wollen.

Das Tröstliche daran ist, dass auch diese neue Welt ebenso wie unsere alte Bücherwelt in erster Linie aus Sprache besteht. Die Starautoren dieser neuen Welt, die in den Köpfen ihrer Leser bunte Welten voller Möglichkeiten entstehen lassen, schreiben indes keine Romane, sondern Code. Es ist an uns, das Thema Buch in der digitalen Welt radikal – d.h. von der Wurzel her – neu zu denken.