Leipzig liest extra

Ungeheure Flexibilität für Leipzig erwartet

5. Mai 2021
von Nils Kahlefendt

Programmplanung mit Inzidenzwert: Leipzig liest extra will sein Literatur-Woodstock ins Digitale verlängern. Da sich jeder nach echten Begegnungen sehnt, hält man ein Hintertürchen für Veranstaltungen mit Publikum offen. Ein Kraftakt für alle Beteiligten.

Während die Sieben-Tages-Inzidenz in Sachsen noch immer über 200 liegt und die Bundesregierung mit Lockerungen für Geimpfte und Genesene einen Schritt in Richtung Normalität geht, hat die Leipziger Buchmesse drei Wochen vorm geplanten Start den aktuellen Programm-Stand von Leipzig liest extra (27. – 30. Mai) öffentlich gemacht. Mit etwas Phantasie darf man sich für Ende Mai in der Stadt einen Aufgalopp von Autor*innen, Verlagsmenschen und Medienvertretern vorstellen, die für vier Tage an bekannten Schauplätzen der City, strikt abseits des Messegeländes, wesentliche Themenlinien des üblichen Messegeschehens zur Aufführung bringen – allerdings wohl ohne oder mit nur wenig Publikum.

Einige hundert Autorinnen und Autoren aus dem In- und Ausland werden überwiegend live vor Ort sein, mehr als 300 Veranstaltungen sollen über das Portal der Leipziger Buchmesse aus diversen Locations im Stadtgebiet gestreamt werden. Und, das ist wichtig, anschließend bis zum 31. August kostenfrei on demand abrufbar bleiben. Die fast zeitgleich startende, ausschließlich auf Streaming setzende lit.Cologne (26. 5. – 12. 6.) ruft fürs Festival-Ticket immerhin 69 Euro (49 Euro für Frühbucher) auf. Bis zuletzt werden alle Leipziger Mit-Veranstalter natürlich versuchen, auch Publikum zuzulassen – ob das gelingt, hängt von den Ende Mai geltenden Pandemie-Regeln ab. Alle Informationen zu den einzelnen Veranstaltungen sind ab heute tagesaktuell unter www.leipziger-buchmesse.de abrufbar.

Programmplanung an den Inzidenzwert knüpfen, das ist der Wahnsinn.

Janika Gelinek

Für die Organisatoren ist das Vorhaben ein Spagat, denn natürlich wissen sie, dass so ziemlich jeder Buchbegeisterte der Republik auf nichts so sehnsüchtig wartet wie die direkte, spontane Begegnung. „Literatur und der Buchmarkt brauchen Öffentlichkeit, Lese-Fans Inspiration und unsere Gesellschaft den Diskurs“, lässt sich Buchmesse-Direktor Oliver Zille in einem Statement zitieren: „Mit Leipzig liest extra greifen wir diese Grundgedanken der Buchmesse auf, verlängern sie ins Digitale und setzen damit gemeinsam mit unseren Partnern aus Leipzig ein weithin sichtbares Zeichen für Bücher, Büchermacher und den gesellschaftlichen Austausch.“

Nicht grundlos dankt Zille „Verlagen, Autorinnen und Autoren, Medienpartnern und allen Mitstreitern“ für ihre „ungeheure Flexibilität“. Wie anstrengend die Planung eines Unternehmens ist, das nicht von vornherein digital-only angelegt ist, sondern die Hintertür für Live-Begegnungen und die unvergleichliche Literatur-Woodstock-Atmo immer noch offenhalten möchte, kann man sich wohl nur ungefähr vorstellen. Ein Interview, das Janika Gelinek, die Co-Chefin des Berliner Literaturhauses, eben dem Magazin „Cicero“ gab, illustriert den Irrwitz der gegenwärtigen Situation. „Programmplanung an den Inzidenzwert knüpfen, das ist der Wahnsinn“, so Gelinek, die erst spät begriffen hatte, dass die Bundesnotbremse die für den Frühling erhofften (und akribisch vorbereiteten) Open-Air-Veranstaltungen verunmöglicht. Zwischen Wut und Frust denkt die Programmmacherin laut darüber nach, Lesungen zu Verkaufsveranstaltungen zu erweitern – Wochenmärkte seien ja de jure erlaubt.

Derzeit keine rechtliche Grundlage für physische Veranstaltungen

Auch in Leipzig, wo man noch vor Monaten – vom Biergarten bis zur großen Bühne – stark auf Open-Air-Lösungen setzte, hat man derzeit keine rechtliche Grundlage für die Planung physischer Veranstaltungen. Der aktuell sachsenweit geltende Lockdown läuft am 9. Mai aus; ab 10. Mai erwartet der Freistaat ein neues Infektionsschutzgesetz, das eventuell Lockerungen enthalten könnte. Fällt die Sieben-Tage-Inzidenz in Leipzig (aktuell 112) fünf Tage hintereinander unter 100, würde zudem die Bundesnotbremse nicht mehr greifen. Was das alles für Leipzig liest extra bedeutet? Hätte, hätte, Infektionskette. Um das Hintertürchen für etwaige physische Veranstaltungen wenigstens einen Spalt weit offenzulassen, arbeitet man in diesem Jahr ausschließlich mit Kultur-Orten zusammen, die es gewohnt sind, professionelle Hygienekonzepte schnell aufzustellen und umzusetzen.

Das Rückgrat der Veranstaltung, die kritische Masse an physisch anwesenden Autor*innen und Moderator*innen, wird durch die Aktivitäten der öffentlich-rechtlichen Anstalten gesichert. Die Alte Handelsbörse am Naschmarkt wird zum ARD-Forum, in dem rund 50 Autor*innen mit ihren Büchern vorgestellt werden. Federführend agiert hier der MDR, der bereits im März 2020 sein gesamtes Bühnenprogramm kurzfristig in ein digitales Studioprogramm für die gesamte ARD umplante.

Das Blaue Sofa, ein Gemeinschaftsprojekt von Bertelsmann, ZDF, Deutschlandfunk Kultur und 3sat, verlässt in diesem Jahr seinen angestammten Platz in der Glashalle und zieht in die Kongresshalle am Zoo. Die Veranstaltungen werden live gestreamt und sind in den Mediatheken von ZDF und 3sat abrufbar. Zusammenfassungen der Gespräche laufen zudem im ZDF und in 3sat.

Die ZDF-Kultursendung “aspekte” wird am 28. Mai mit einer Literatur-Schwerpunktsendung aus Leipzig berichten, die 3sat-“Kulturzeit” sich in bewährter Weise mit Neuerscheinungen und aktuellen Entwicklungen am Buchmarkt befassen. Eine Reportage aus Portugal, dem Gastland der Leipziger Buchmesse 2022, ist bereits abgedreht. Das alles ist mehr als business as usual, hier wird sehr laut für die aktuellen Frühjahrsprogramme, das Lesen (und Bücherkaufen!) getrommelt.

Da passt es gut, dass die Buchmesse in dieser Woche ein Plakat der Illustratorin Kat Menschik aufgelegt hat („Lasst uns lesen“), um ein Stück Leipzig liest in die Buchhandlungen der Republik zu bringen. Die Plakate liegen am 6. Mai dem Börsenblatt bei, können aber auch über die Website der Leipziger Buchmesse geordert werden.

Leipzig liest extra-Leuchttürme werden die Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung an Johny Pitts und Laszlo Földényi (Nikolaikirche, 26. Mai) und des Preises der Leipziger Buchmesse (Kongresshalle am Zoo, 18. Mai) sein, ebenso wie der Leipzig liest-Abend mit Christoph Hein (Kongresshalle, 29. Mai). Mit etwas Glück könnte das Literaturhaus Leipzig, nicht zuletzt dank seines Gartens, zu einer Art Arche Noah der Literatur werden. Komm in den totgesagten Park und schau, darf man mit Stefan George sagen: Auf einen von Gregor Sander moderierten Abend mit der für den Buchmesse-Preis nominierten Judith Hermann (26. Mai) folgt ein Portugal-Abend (28. Mai), parallel läuft die dreitägige, in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung organisierte Veranstaltung „The Years of Change“ (27. – 29. Mai).

Die „Institutsprosa“ mit 18 ehemaligen Studierenden des Deutschen Literaturinstituts (27./28. Mai) wird womöglich live in den Garten des Hauses in der Wächterstraße übertragen. Parallel performen an beiden Tagen junge deutschsprachige Autor*innen zur Langen Leipziger Lesenacht L3 in den Gewölben der Moritzbastei – wer keinen Garten hat, den bestraft in diesem Fall womöglich die Hygiene-Verordnung. Das Forum Die Unabhängigen, in normalen Zeiten Messe-Magnet mit halbstündig getaktetem Programm, verlegt die Kurt Wolff Stiftung nun in den Westflügel des Lindenfels im Leipziger Westen. Am Samstag (29. Mai) wird die Premiere von „Die Unabhängigen – Spätausgabe“, die bereits 2020 die legendäre UV-Lesung ablösen sollte, im Literaturhaus-Garten stattfinden.

Daneben laden zahlreiche Verlage zu digitalen Begegnungen mit ihren Autor*innen und den neuen Büchern ein. Sie sind live vor Ort – so sind Handlungsorte unzähliger Messe-Feuilletons wie das „Horns Erben“ oder die Tanzgaststätte „Ilses Erika“ zumindest im Stream zu erleben. Auf Engtanz-Runden wie zur Tropen-Party in Vor-Corona-Zeiten sollte diesmal allerdings niemand hoffen. Eigentlich möchte man Mäuschen sein, wenn Bachmann-

Preisträgerin Sharon Dodua Otoo („Adas Raum“) auf der Bühne des alten Gründerzeitkinos UT Connewitz steht; bessere Locations haben sie auch bei „Druckfrisch“ nicht. Wie eng die Leipziger mit ihrem Lesefest verbunden sind, zeigt auch das Beispiel von Rowohlt-Autor Lothar Frenz („Wer wird überleben? Die Zukunft von Natur und Mensch“), für den in normalen Zeiten eine Lesung im Zoo die Punktlandung wäre. Der Leipziger Zoo, der seit Monaten geschlossen ist und seine Leute in Kurzarbeit schicken musste, wird für Frenz exklusiv die Türen aufsperren. Ganz egal, ob dem Biologen und GEO-Journalisten im Gondwanaland nur ein einzelner Schabrackentapir lauscht oder eine Kleingruppe neugieriger Leser*innen unter strikter Einhaltung aller AHA-Regeln: Mit diesem spirit sollte Leipzig liest gestärkt aus dem alle in Atem haltenden Kraftakt hervorgehen.