Leseförderung

Lesekompetenz ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor

21. Oktober 2025
Stefan Hauck

Arbeitskräfte mit mangelhafter Lesekompetenz kosten die Unternehmen etliche Milliarden Euro. In einer Podiumsdiskussion waren sich Experten aus der Wirtschaft rasch einig: Weitaus sinnvoller ist es, Lesedefizite im Kindesalter zu beheben, als darauf zu warten, dass sich das Problem "irgendwie lösen" werde. Dann wird es richtig teuer.

Podiumsdiskussion zu Lesen als Wirtschaftsfsaktor: (von links) Eva Simmelbauer (Thalia), Niko Georgiadis (Deutsche Bahn), Barbara Ofstadt (Siemens), Frank Kühne (Carlsen), Brigitte Scheuerle (IHK Frankfurt am Main) und avj-Vorsitzender Bernd Herzog

Podiumsdiskussion zu Lesen als Wirtschaftsfsaktor: (von links) Eva Simmelbauer (Thalia), Niko Georgiadis (Deutsche Bahn), Barbara Ofstadt (Siemens), Frank Kühne (Carlsen), Brigitte Scheuerle (IHK Frankfurt am Main) und avj-Vorsitzender Bernd Herzog

Veranstalter der Podiumsdiskussion unter dem Titel "Lesekompetenz im Sinkflug – Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland?" war die Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (avj). Sie hatte Barbara Ofstad (Siemens AG), Niko Georgiadis (Die Bahn AG), Frank Kühne (Carlsen Verlag / Bonnier Media Deutschland), Dr. Brigitte Scheuerle (IHK Frankfurt) und Eva Simmelbauer (Thalia Bücher GmbH) am vergangenen Freitag im Rahmen der Frankfurter Buchmesse im Forum Bildung zur Diskussion gebeten. Ebenfalls auf dem Podium saß der avj-Vorsitzende Bernd Herzog. 

 

"Wir müssen die Studienergebnisse auch ernst nehmen!"

"Wir steuern sichtlich auf eine Katastrophe zu", konstatiert Bernd Herzog, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen. "25 % der Viertklässler können nicht mehr sinnentnehmend lesen, das ist aus unserer Sicht alarmierend.“ Das ändere sich auch später meist nicht und koste die Wirtschaft etliche Milliarden Euro. "44 % der Auszubildenden haben oft Mängel im mündlichen und schriftlichen Ausdrucksvermögen", zitiert Brigitte Scheuerle, Geschäftsführerin Aus- und Weiterbildung der IHK Frankfurt am Main, aus einer aktuellen DIHK-Umfrage. Mentale Stärken hätten spürbar nachgelassen, hier könne Lesen unterstützen. "Die Zahlen liegen alle vor, wir machen in Deutschland ja Studien ohne Ende - nur müssten wir die Studienergebnisse auch ernst nehmen!", bringt Scheuerle unter Applaus der Zuhörer im Forum Bildung die Situation auf den Punkt.

Mangelhafte Lesekompetenz wirke sich direkt negativ auf die Ausbildung aus und werde oft schon beim Verfassen des Lebenslaufs sichtbar, erläutert Niko Georgiadis, Leiter Recruitung technische Akademiker der Deutschen Bahn AG. "Als Lokführer muss ich Anleitungen lesen können, wir haben bei der Bahn viele sicherheitsrelevante Berufe, da darf nichts schiefgehen", so Georgiadis. "Es entsteht ein hoher wirtschaftlicher Schaden, allein wenn wir nachqualifizieren müssen, weil jemand eine Prüfung nicht besteht, die Betreuungskosten im Betrieb", das müsse ja gestemmt werden. Rund 4.000 junge Menschen bildet die Bahn pro Jahr aus.

"Die Politik begreift nicht die Bedeutung der Leseförderung"

"Lesen ist eine Schlüsselqualifikation, wenn es darum geht, komplexe Sachverhalte zu verstehen, sich etwas anzueignen, um überhaupt erst eine Berufsfähigkeit zu haben", stellt Barbara Ofstad, Leiterin Siemens Professional Education fest. "Noch sind wir mit der Lesekompetenz zufrieden, de facto geben wir allerdings flächendeckend Nachhilfe in MINT, damit die jungen Leute im Berufsschulunterricht mitkommen." Siemens bietet auch in einer Kooperation Weiterbildungen für Viert- bis Achtklässler an, um Wissen in Sachen MINT zu vermitteln.

"Ich glaube, dass die Leseförderung in der Politik nicht in ihrer Bedeutung begriffen worden ist", meint Carlsen-Programmmanager Frank Kühne. Lesenlernen dauere acht Jahre – für jedes Kind. In dieser Zeit seien je nach Bundesland unterschiedliche Ministerien zuständig, die Sozialministerien, Jugend-, Bildungs- und Kultusministerien, "die einzigen die nicht dabei sind, sind die Wirtschaftsministerien". In Hamburg habe die Schriftstellerin Kirsten Boie es fertiggebracht, alle an einen Tisch zu holen: "Jetzt übernimmt das Schulamt die Kosten für Literacy in Kitas, weil die Schule davon später sehr profitiert!" Eva Simmelbauer von Thalia hebt die Rolle des Buchhandels hervor: "Wir wollen den Spaß am Lesen vermitteln – wir sind nicht nur Händler, sondern haben auch einen kulturellen Auftrag." Deshalb engagiere man sich in der Leseförderung. "Unsere Filialen vor Ort bekommen auch viele Anfragen, Schulen und Bibliotheken mit Büchern zu unterstützen."

"Nicht: Jedes Kind sollte lesen können, sondern: Jedes Kind muss lesen können!", forderte Carlsen-Programmmanager Frank Kühne mit Barbara Ofstad (links) von Siemens und Brigitte Scheuerle von der IHK Frankfurt am Main

"Nicht: Jedes Kind sollte lesen können, sondern: Jedes Kind muss lesen können!", forderte Carlsen-Programmmanager Frank Kühne mit Barbara Ofstad (links) von Siemens und Brigitte Scheuerle von der IHK Frankfurt am Main

"Doppelt so viele Menschen werden den Arbeitsmarkt verlassen wie eintreten"

"Wenn wir nicht sicherstellen, dass die Lesekompetenz sichergestellt ist, dann haben wir echt ein Problem", resümiert Barbara Ofstad von Siemens. "In unseren Prüfungen haben wir bundesweit komplexe Fragestellungen, und wer die bei einer Mechantroniker-Prüfung nicht richtig erfasst, fällt durch. Mit Blick auf den drohenden Fachkräftemangel durch den Weggang der Babyboomer wird das ein Problem.“

"In den nächsten zehn Jahren werden doppelt so viele Menschen den Arbeitsmarkt verlassen wie eintreten, und wenn die nicht lesen können – das können wir uns einfach nicht leisten“, zieht Niko Georgiadis von der Bahn AG nüchtern Bilanz.

Zumal es immer weniger Kinder und Jugendliche gebe, "und die haben immer größere Schwierigkeiten in der Lesekompetenz. Wenn wir das nicht gebacken bekommen … wie kommen wir aus diesem Teufelskreis raus?", fragt Brigitte Scheuerle von der IHK. "Man darf es sich als Gesellschaft nicht zu einfach machen mit der Forderung: Das sollen die Lehrer richten. Ein Beispiel: Wenn Eltern in Schichtarbeit arbeiten, kann man einfach keinen Elternabend machen, dann muss dieses Treffen vielleicht samstags stattfinden, da muss in den Schulen ein Umdenken stattfinden. Wie erreichen wir denn die Eltern? Wir merken sehr deutlich: Wir erreichen samstags andere Eltern als werktagsabends." Die Rolle der Schule betont auch avj-Vorsitzender Bernd Herzog: Die 20- bis 29-Jährigen seien zuhause noch mit Büchern in Kontakt gekommen, die Jüngeren hingegen nicht mehr: "Ihr Kontakt zu Büchern entsteht in Schulen und Bibliotheken, das ist eine große Veränderung."

Klare Forderung: "Ein Kind MUSS lesen können"

Manche Veränderungen werden zunächst wehtun, warnten Ofstad und Kühne. "Schule bis 1 Uhr wird nicht mehr reichen, um entscheidende Kompetenzen wie Lesen zu vermitteln", erklärte Ofstad. "Wir müssen umdenken." Viele verließen sich darauf, dass das mit der Vermittlung von Lesekompetenz schon "irgendwie klappen wird", ist nicht nur die Beobachtung von Frank Kühne – "nein, es wird eben nicht irgendwie gelingen, denn Lesenlernen braucht üben, üben, üben - es muss auch für Kinder eine Form von Pflicht geben." Es dürfe nicht heißen: Ein Kind sollte lesen können, das sei eine Haltung der Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft des Kindes – "nein, ein Kind MUSS lesen können." Erkennbare Defizite müsse man früh angehen. Denn je früher man mit Leseförderung anfange, umso effektiver sei es: "Wenn wir erst bei 17-Jährigen feststellen, dass sie nicht gut genug lesen und verstehen können, dann ist es ziemlich schwer, hier die Defizite aufzuholen." In Hamburg sei es verpflichtend, dass sich Grundschulkinder jeden Tag 20 Minuten im Unterricht vorlesen, "jeden Tag!" "Ein Drittel der Eltern liest abends nicht mehr vor", berichtet Eva Simmelbauer von Thalia, "und ganz vielen ist überhaupt nicht bewusst, was das bedeutet, welchen Folgen das hat. Man muss zuhause ansetzen, das darf man nicht vergessen."

"33 % der Kinder unterschreiten die Mindeststandards in Orthografie und Sprache"

Dem pflichtet Barbara Oftstad von Siemens bei: "Es ist viel kostengünstiger, vorher Geld einzusetzen als hinterher nachzubessern." "Absolut", stimmt Niko Georgiadis zu: Die Bahn habe eine Tochter, DB Training, die sich um Lese- und Sprachkompetenz kümmere – "es gibt eine feststellbare Korrelation zwischen fehlender Sprach- und Lesekompetenz und Ausbildungsabbrüchen." Und auch bei anderen Kompetenzen: Siemens respektive die Siemensstiftung investiere, um Technologiethemen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene erfassbar zu machen, so Ofstad: "Wir holen alle ersten Ausbildungsjahrgänge zum Thema Demokratie ab, weil es wichtig ist, zum Beispiel Fake News zu erkennen, da investieren wir jährlich eine Viertelmillion Euro. Wir müssen Bildungsbedingungen neu denken, denn wir leben nicht mehr 1970. Transformation heißt: Wir müssen umdenken."

Welche Auswirkung das Nicht-Erfassen hat, spricht Brigitte Scheuerle von der IHK an: "Wenn ich nicht richtig lesen kann und auch die Schule kaum schaffe, dann habe ich für die sogenannten Zukunftsthemen gar keine Motivation, weil ich erlebt habe, dass Schule und Lernen mühsam sind." Den so wichtigen Spaß am Lernen "kriegen wir nie hin, wenn wir Lesekompetenz nicht fördern." Diese Motivation und die Bereitschaft zur Weiterbildung seien aber unerlässlich für die die Wirtschaft. Was Scheuerle ärgert: "33 % der Kinder unterschreiten die Mindeststandards in Orthografie und Sprache – da braucht es eine Pflicht zum Lesenlernen, eine Verbindlichkeit!" Barbara Ofstad geht noch einen Schritt weiter: "Man muss diese Mindeststandards auch kontrollieren, das ist ja in der Wirtschaft auch nicht anders.": In Südtirol sei inzwischen in der Verfassung verankert, ergänzt hier Bernd Herzog von der avj, dass jede Schule verpflichtend mit Büchern und Personal ausgestattet werde, ebenso in skandinavischen Ländern.

"Mit jedem funktionalen Analphabeten verringern sich auch Ihre Kundenkreise"

Fehlende Lesekompetenz sei aber keinesfalls nur in Bezug zu Arbeitskräften wichtig, fügt Brigitte Scheuerle einen weiteren Aspekt in der Debatte hinzu: "Mit jedem funktionalen Analphabeten verringern sich auch Ihre Kundenkreise ..." Weshalb auch Frank Kühne fordert: "Wir müssen anderthalb Jahre vor Ende der vierten Klasse sicherstellen, dass jedes Kind in puncto Lesekompetenz eingeschätzt wird, geprüft wird, um bei spürbaren Defiziten unverzügliche Maßnahmen zu ergreifen, die das Kind beim Erwerb der Lesekompetenz unterstützen. Das kostet in Summe Milliarden, ist aber viel günstiger als hinterher nachzubessern, das kostet, wie wir eben anschaulich dargelegt bekommen haben, nämlich in Summe viel, viel mehr."