Interview mit Leipzig Buchmesse-Chef 

Zille: "Jetzt ist nicht die Zeit für Zweifel" 

11. Februar 2022
von Torsten Casimir

Nach der Absage der Leipziger Buchmesse gibt sich der langjährige Direktor der Messe, Oliver Zille, schon wieder kämpferisch. Er weiß die Stadt und den Freistaat Sachsen an seiner Seite. Ein Interview mit optimistischem Blick auf die Zukunft. 

Der Branchenstreit darüber, was den Ausschlag für die Absage der Messe gab, ist in vollem Gang. Stimmt das Narrativ von den westdeutschen Großverlagen, die in einer Demonstration ihrer Macht Leipzig den Stecker gezogen haben? 
Nein, so ist es nicht. Hier verflechten sich verschiedene Linien miteinander. Es läuft eine Diskussion „Die Großen gegen die Kleinen“. Es ist auch die Rede von den „behäbigen großen Buchmessen“ Und es lebt in einer Neuauflage die Debatte „West gegen Ost“ wieder auf. Jedenfalls kann ich den Verschwörungsmythos, wonach die großen Verlage Leipzig den Stecker gezogen haben, nicht bestätigen. 

Wer oder was war es denn? 
Ich habe in vielen Gesprächen der vergangenen Tage und Wochen gemerkt, dass es in Bezug auf die immer noch ansteigende Omikron-Welle überall in der Buchbranche – wie in der Gesellschaft überhaupt – eine erhebliche Verunsicherung gibt. Man hat offensichtlich den Projektionen der Pandemie-Entwicklung nicht mehr vertraut. Und das ging querbeet und betraf alle Verlagsgrößen. Auch eine Reihe kleinerer Verlage haben mir gesagt, es sei ihnen mulmig bei der Vorstellung, dass im März hier 25.000 Leute pro Tag durch die Hallen marschieren. Ebenso wuchsen die Zweifel bei mittleren, familiengeführten Verlagen. 

Wie erklären Sie sich dann, dass von vielen jetzt die Schuldzuweisung Richtung Konzernverlage vorgenommen wird? 
Durch die bittere Absage der Messe werden Diskussionen wieder heißgeschaltet, die in der Branche schon lange schwelen. Dazu gehört das Verhältnis von Großen und Kleinen, die ungleiche Verteilung von Aufmerksamkeit für die Autorinnen und Autoren großer und kleiner Verlage. Diese Themen werden nun auf der Folie der Absage neu verhandelt. Jedenfalls haben uns Verlage aller Größenordnungen in den vergangenen Tagen und Wochen ihre Bedenken mitgeteilt, auch Leipziger Verlage. Eins will ich festhalten: Dass sich jetzt die Konzernverlage mit einem klaren Bekenntnis zur Leipziger Buchmesse zu Wort melden, ist für mich zunächst einmal kein schlechtes Zeichen. Wir nehmen das beim Wort. Und es zeigt doch: Die Absagen hatten in allererster Linie mit der Pandemie zu tun.  

Dennoch wird seit Donnerstag diskutiert, ob eine Leipziger Buchmesse auch ohne Beteiligung der Konzernverlage vorstellbar sei – als ein Fest der kulturellen Begegnung, der Independents, der Vielfalt. Ist sie das? 
Diese Frage habe ich auch gelesen. Uns stellt sie sich aber nicht. Wir haben einen wirklichen Branchenüberblick abzubilden. Das war und bleibt unser Markenversprechen. 

Jetzt ist nicht die Zeit für Zweifel. Wir haben in Leipzig eine klare Mission und ein gutes Grundkonzept. Jetzt heißt es kämpfen, dieses Großereignis der Literatur und des Lesens wieder in Gang zu bringen.

Und Leipzig künftig nur noch als Europas größtes Lesefest, ohne die Präsenz der Verlage in den Messehallen? 
Auch das ist keine Option. Wir haben das Lesefest immer als Verlängerung des Geschehens auf dem Messegelände konzipiert: als ein Großereignis, das es schafft, bei niedrigen Zugangsschranken ein großes Lesepublikum zusammenzubringen. Das funktioniert bei keinem Lesefest der Welt so wie auf einer Leipziger Buchmesse, wo alle Alters- und Interessengruppen zusammenkommen und wo auf die Weise neues Lesepublikum gewonnen wird. Natürlich könnte Leipzig hier ein reines Literaturfest organisieren. Aber das wäre ein ganz anderes Modell, und es würde niemals diese Medienaufmerksamkeit und Marktdurchdringung erlangen wie unsere Kombination aus Messe, Convention und Lesefest. 

Die lokale Leipziger Internet Zeitung wirft Ihnen ein Komplettversagen der Organisation vor und vermisst die Entwicklung eines digitalen Alternativprogramms. Andere kritisieren, dass keine Verschiebung hin zu einem späteren Zeitpunkt im Jahr in Erwägung gezogen worden sei. Was sagen Sie zu den Vorwürfen? 
So ein Ereignis wie die Leipziger Buchmesse braucht ein Jahr Vorbereitungszeit. Wir haben im Vollbetrieb zweieinhalbtausend Aussteller auf der Messe. Den Termin haben wir im Sommer 2021 in Abstimmung mit der Branche festgelegt. Alle waren sich sehr einig, dass es im März gelingen wird. Und wenn ich dann loslaufe, kann ich nicht alle 14 Tage meine Richtung ändern. Erst nach der Wiener Buchmesse Mitte November kamen überhaupt Vorahnungen auf, dass die Messe im März vielleicht doch anders aussehen würde. Aber zu dem Zeitpunkt Messe und Lesefest noch zu verschieben, wäre organisatorisch schon nicht mehr möglich gewesen. 

Wird es jetzt im März bei „Leipzig liest“ Veranstalter geben, die ihre geplanten Termine in Eigenregie durchziehen? 
Wir haben unser Gastland Portugal, unseren Regionalschwerpunkt Südosteuropa, wir haben die Österreicher, die nächstes Jahr Gastland sein werden. Wir haben Verlage mit fertig geplanten Lesungen. Einiges davon wird natürlich auch stattfinden. Aber es kann dem, was unter der Marke „Leipzig liest“ sonst in der Buchmessewoche passiert, nur sehr entfernt ähneln.  

Die Forderung nach mehr digitalen und hybriden Angeboten wird jetzt auch an Sie gerichtet. Sind Sie da schon weit genug vorangekommen? 
Hybrid bedeutet die Verlängerung einer physischen Messe ins Digitale. Das hätte in diesem Jahr auch in Leipzig stattgefunden. Wir haben viele hybride Formate, wir haben Streamings geplant, Studios vorgesehen. Reichweitenverlängerung ist für uns ein ganz wichtiges Thema. Eine reine digitale Leipziger Buchmesse hingegen halte ich für unrealistisch. Wir sind zuvörderst eine Messe der persönlichen Begegnung, eine Autor:innen- und Leser:innenmesse, da geht es um das Interesse der Verlage, ihr wichtigstes Kapital zu pflegen und zu entwickeln. 

Die wirtschaftliche Situation nach der dritten Absage infolge, diesmal fast bei Vollkosten, ist maximal unerfreulich. Stehen die Gesellschafter der Messe, die Stadt Leipzig und der Freistaat Sachsen, noch zu ihrer Unternehmung? 
Die beiden Gesellschafter, Stadt und Land, kennen die Bedeutung der Leipziger Buchmesse, auch und gerade die Bedeutung für den Standort. Wir haben klare Zeichen sowohl von der Stadt als auch vom Freistaat Sachsen, dass wir alle Mittel an die Hand bekommen, diese Messe 2023 und in den Folgejahren durchzuführen. Da gibt es nicht den geringsten Zweifel. Das wird sicher rund um den Messetermin und unsere Preisverleihungen auch noch einmal klar artikuliert werden. Hinzu kommt, dass wir auch Unterstützung durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien bekommen; aus dem BKM gibt es ebenfalls positive Signale. Und so können wir den Schaden so weit wie möglich begrenzen und klar in die Zukunft planen. 

Nach dem dritten Jahr intensiver Arbeit, die letztlich vergebens gemacht worden ist – ist bei Ihnen persönlich die Kraft und die Freude für einen nächsten Anlauf noch da? 
Ehrliche Antwort: Sowohl ich selbst als auch meine Mannschaft müssen diese Kraft wieder finden. In diesem Moment aber lapidar zu sagen, klar, es geht weiter, das wäre doch eine unzulässige Vereinfachung. Was einem der Körper am Ende sagt, das wird man sehen. Aber ich kann über Motivation reden. Jetzt ist nicht die Zeit für Zweifel. Wir haben in Leipzig eine klare Mission und ein gutes Grundkonzept. Jetzt heißt es kämpfen, dieses Großereignis der Literatur und des Lesens wieder in Gang zu bringen. Und damit das gelingt, werden wir alle Ressourcen, die wir intellektuell, kräftemäßig und finanziell mobilisieren können, in die Waagschale werfen.