Meinung

Immer nur der letzte Schrei

31. Januar 2008
von Börsenblatt
Das zweite Buch: Über die törichte Sehnsucht nach dem Neuen. Von Rainer Moritz.
Seit einiger Zeit ist es Mode geworden, über die aktuelle Literaturkritik zu klagen, ihr vorzuwerfen, sie verliere ihre Unabhängigkeit und lasse sich vor den Karren der Verlagswerbeabteilungen spannen. Vorgetragen wird dieses Lamento – das rasch ad absurdum geführt würde, wenn man die vermeintlich so grandiosen Besprechungen nachläse, die in den 60er oder 70er Jahren publiziert wurden – meist von professionellen Literaturkritikern, die ihr eigenes Schaffen selbstredend nicht meinen. Lassen wir die Kirche im Dorf und weisen lieber auf ein Defizit hin, das dem gegenwärtigen Zustand der Kritik in der Tat kein gutes Zeugnis ausstellt. Es geht um zweite Bücher, um jene Versuche von Autoren, den sympathischen Geruch des talentierten Debütanten abzustreifen und sich ein »Standing« im Betrieb zu erarbeiten. Erste Male zeichnen sich, nicht nur in der Literatur, oftmals durch schönste Unbekümmertheit aus, die noch nicht von der Bürde übergroßer Reflexion belastet ist. Das zweite Buch jedoch, womöglich das, das die Anerkennung, die das erste erfuhr, bestätigen soll, ist nicht selten eine schwierige Geburt. Die Literaturkritik trägt in letzter Zeit selten dazu bei, zweite Bücher angemessen zu begleiten. Natürlich, mag mancher Redakteur ausrufen, haftet diesen Zweitlingen nicht das Überraschende oder gar Sensationelle an, das sich herausstellen ließ, wenn ein unbekannter Autor am Firmament auftaucht. Beispiele gefällig? Franziska Gerstenberg ist eine talentierte Autorin aus der Leipziger Schule, deren Erzähldebüt »Wie viel Vögel« 2004 mit Aplomb aufgenommen wurde. Viele überregionale Feuilletons würdigten das Buch, und die »Frankfurter Allgemeine« machte mit ihm sogar ihre Leipziger Buchmessenbeilage auf, eine seltene Ehre für einen deutschsprachigen Erstling. Nicht viel schlechter erging es 2005 dem 69-jährigen Debütanten Egon Gramer, dessen »Gezeichnet: Franz Klett« wohlwollende Besprechungen erhielt und es sogar auf die Longlist des Deutschen Buchpreises brachte. Zuletzt legten beide Autoren ihre zweiten, keineswegs markant schlechteren Bücher vor: Franziska Gerstenberg ihre Erzählungen »Solche Geschenke«, Gramer den Roman »Zwischen den Schreien«. Und beiden erfuhr Vergleichbares: Ihres Nachrichten- und Sensationswertes – da die recht junge, da der recht alte Debütant – beraubt, wurden Gerstenberg und Gramer von den meisten Literaturredaktionen auf die Seite geschoben, als gälte es, jedes Frühjahr und jeden Herbst partout neue Säue durchs Dorf zu treiben. Nicht einmal die »Frankfurter Allgemeine« kümmerte sich mehr um Franziska Gerstenbergs Zweitling, und Egon Gramer musste erleben, wie es ist, von der »Neuen Zürcher Zeitung«, der »Süddeutschen Zeitung« und der »Frankfurter Rundschau« ignoriert zu werden. Ob sich Clemens Meyer, der im Frühjahr zum zweiten Mal an den Start geht, schon fürchten muss? Wohingegen sich die Debütanten Reinhard Kaiser-Mühlecker, Judith Schalansky, Katherina Hagena und Cordelia Schleime darauf freuen dürfen, entdeckt zu werden – vielleicht. Kommen zweite Bücher auch im Handel zu kurz? Sind auch Sie dem Reiz des Neuen erlegen?