Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen avj

Wie ticken Jugendliche 2016?

16. Juni 2016
von Stefan Hauck
Impulse von der avj-Hauptversammlung in Berlin: Brigitte Dinkelaker von der Sinus-Akademie hat heute Ergebnisse der Studie über die Lebenswelten der 14- bis 17-Jährigen in Deutschland vorgestellt. Unter anderem hat sie eine stärkere Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Neokonventialismus und eine digitale Sättigung konstatiert.

Das Besondere bei dieser Studie: Junge Interviewer (alle unter 30) kamen mit den ausgearbeiteten Fragen zu den Jugendlichen nach Hause – „in Peer-to-Peer-Interviews sind die Antwortenden viel offener“, begründete Brigitte Dinkelaker. Im Fokus der Untersuchung stand die Frage, welche jugendlichen Lebenswelten es heute gibt und wie Jugendliche ihren Alltag erleben.  Dinkelaker schilderte zunächst generelle Tendenzen: Jugendliche müssen sich immer mehr in Eigenregie organisieren, das Verhältnis zu den Elternhäusern ist meist entspannt, der Nachwuchs entfernt sich meist friedlich von ihnen. Schon sehr früh sei der Druck zu spüren, einen bestimmten Weg einzuschlagen, um im Leben erfolgreich zu sein.

Die Jugendbuchverleger, die sich im Musiksaal des Ullstein-Verlags eingefunden hatten, testete Dinkelaker mit einer Version des „Wer wird Millionär?“-Spiels: Zu erraten galt etwa, welche Funktion die App „Shazam“ hat, welche Kleidermarken Kultstatus haben etc. So erfuhr man, dass 99 Prozent der 12-19-jährigen Mädchen ein Handy haben, aber nur noch 26 % der 16- bis 17-Jährigen Facebook als wichtige Community empfinden - WhatsApp hat Facebook längst den Rang abgelaufen.

 

Digitale Sättigung ist erreicht

Im Vergleich zu der letzten Studie von 2012 haben sich keine völlig neuen Lebenswelten ergeben, markant ist jedoch der Neokonventialismus: „Der Drang zur Abgrenzung ist schwächer und der Wunsch dabeizusein wieder stärker geworden“, so Dinkelaker. Auffällig auch, dass die soziale Fürsorge zunehmend als ein wichtiger Wert gesehen werde und es eine größere Akzeptanz hinsichtlich der religiösen Zugehörigkeit und hinsichtlich Andersdenkender gebe: „Die Jugendlich erfahren ja täglich, dass es in ihrem Lebensumfeld Kinder aus vielen Religionen und Konfessionen gibt. Die dritte deutliche Tendenz: „Wir spüren ein digitale Sättigung – man fühlt sich wunschlos glücklich, aber die Jugendlichen sind - obwohl sie online leben – genervt, dass auf Partys viele auf ihre Handys starren, und sind auch besorgt, ob ihre Kinder später überhaupt noch glücklich sein können.“

Eine Zunahme rechtspopulistischer Überzeugungen konnte Dinkelaker in der Studie nicht feststellen. Über die prozentuale Verteilung der einzelnen Gruppen und Lebenswelten (Nachfolgend vorgestellt) machte Dinkelaker bewusst keine Angaben, da es hier keine statistisch repräsentativen Erkenntnisse gibt. Mit den Studienergebnissen wollte sie Impulse geben für all diejenigen, die Angebote für Jugendliche machen.

 

Selbstdisziplin statt Selbstentfaltung

Jugendliche aus der konservativ-bürgerlichen Lebenswelt bezeichnen sich als bodenständig und heimatnah. Sie sehen die Familie als Grundpfeiler der Gesellschaft, sind Konventionalisten, wollen nichts überstürzen und gehen lieber auf Nummer sicher als dass „No risk, no fun“ ihr Motto wäre. Die konservativ-bürgerlichen Jugendlichen sind sparsam und gehen kontrolliert mit dem Geld um, Selbstdisziplin ist ihnen wichtiger als Selbstentfaltung. Sie investieren Zeit in die Familie, unternehmen mit ihnen gerne etwas, sie gehen in Sportvereine; bei migrantischen Eltern besteht auch eine Beziehung zur Heimat der Eltern. Sie hören Andreas Bourani, Nickelback, Helene Fischer, Elton John, Beatrice Egli und Fools Garden.

 

Nummer sicher gilt als total langweilig

Jugendliche aus der experimentalistisch-hedonistischen Lebenswelt bezeichnen sich als nonkonformistisch. Sie wollen ihr Leben in vollen Zügen genießen und sich den Ernst des Lebens noch möglichst lange fern halten, sie wollen Grenzen überschreiten, Regeln brechen: „So ist Leben für sie erfahrbar.“ Schule habe für die meisten keine Priorität, nur wenn sie etwas in der eigenen Lebenswelt wirklich interessiert.

Die experimentalistisch-hedonistischen Jugendlichen setzen sich von der Vorstellung der bürgerlichen Normalperspektive ab: „Sie nehmen bewusst in Kauf, dass sie mit ihrer Haltung anecken.“ Der Umgang mit Sexualität sei deutlich lockerer als in anderen Lebenswelten, auch gleichgeschlechtliche seien ok. „Das Prinzip ‚Nummer sicher‘ gilt hier als total langweilig, cool ist es hingegen, Dinge zu machen, die an die Grenzen dessen gehen, was erlaubt ist.“ Schon früh interessieren sich die Jugendlichen für subkulturelle Kontexte, sie schätzen experimentellere Musik, hören Feine Sahne Fischfilet, Jennifer Rostock, Gogol Bordello, Turbostaat, Slipknot, Wu Tang Clan, Skillet Donots. Von der klassischen Kultur halten sie sich fern.

 

Leseangebote werden oft begeistert aufgenommen

Die äußeren Rahmenbedingungen prägen die Jugendlichen der prekären Lebenswelt in hohem Maße. Sie haben häufig schlechte Aussichten auf einen Schulabschluss, leben in sozialen Brennpunkten, kennen es, sich auf der Straße zu behaupten und berichten offen von physischen und psychischen Gewalterfahrungen. Dafür brauchen sie eine „Durchbeißermentalität“. Diese Gruppe ist um Orientierung und Teilhabe bemüht.

Die Familie spielt eine große Rolle, ebenso Werte wie treu sein und loyal sein. In HartzIV abzurutschen ist diesen Jugendlichen ein Greuel; um zu einem guten Beruf zu kommen, würden sie vieles tun. Bei manchen sei es eine Durchgangsphase, „vor allem, wenn sie raus wollen“. Sport und die Darstellung des eigenen Körpers, Pokale und Medaillen spielen eine große Rolle.

„Die Jugendlichen arbeiten hart daran, ihre Situation zu verbessern – und sie wissen darum, dass sie sich auch selbst einiges verbauen“, meinte Dinkelaker. Ein großer Wunsch sei der nach einer Dazugehörigkeitsgefühl. Viele orientierten sich am Geschmack der Peer-Group, um nicht aufzufallen. Lesen ist nach eigenen Aussagen der Interviewten nicht so ihr Ding, aber oft nehmen sie Leseangebote begeistert auf – nur gibt es diese bei den meisten nicht in der näheren Umgebung. Die Jugendlichen der prekären Lebenswelt hören die Musik von Haftbefehl, Iggy Azaela, Ariana Grande, El-one, Fard, Berner und B Real und Farid Bang.

 

Man klagt nicht, sondern findet sich ab

Die Teens aus der adaptiv-pragmatischen Lebenswelt sind aus der Mitte unserer Gesellschaft, sie sehen sich als künftige Steuerzahler, die dem Staat nicht auf der Tasche liegen wollen. Sie bejahten die gesellschaftliche Ordnung, wissen das Sozialsystem zu schätzen und wollen es schützen. Als wichtige Werte geben sie Vertrauen, Fleiß, Freiheit, Spaß und Offenheit an.

Ideologien stehen diese Jugendlichen distanziert gegenüber, sie basteln keine Utopien einer neuen Welt, sondern wollen ein sicheres und geordnetes Leben: „Man klagt nicht, sondern findet sich ab“, meint Dinkelaker. Viele orientierten sich am amerikanischen Lebenstraum, Besitz ist wichtig, aber Geiz wird als unsympathisch empfunden. Der Beruf soll Spaß machen, gefordert sind hier regelmäßige Arbeitszeiten, die familienverträglich sein sollen, nicht zu weit entfernt vom Wohnort. Einen migrantischen Hintergrund sehen sie als Chance  und zugleich als Ressource: Damit haben sie im interkulturellen Alltag mehr Wissen parat, auch sprachlich. Die Jugendlichen haben einen Plan im Leben, erstreben eine Familie und ein gesichertes schönes Zuhause, schätzen aber keinen übertriebenen Luxus. Mädchen lesen hier deutlich mehr als die Jungs, insbesondere viel Fantasy. Jungs lesen ebenfalls gern Fantasy.

 

Der Beruf soll Berufung sein

Die Jugendlichen aus der sozialökologischen Lebenswelt verfügen über ein großes Repertoire an sozialkritischen Positionen, üben oft fundamentale Kritik und formulieren recht deutlich den postmateriellen Wertekatalog mit Freiheit, Gleichberechtigung, Nachhaltigkeit etc. „Der Nachwuchs hat hier ein starkes Sendungsbewusstsein und will andere überzeugen, was wichtig ist“, sagt Dinkelaker. So nimmt es nicht wunder, dass sich die Jugendlichen hier als Klassensprecher und in sozialen Projekten engagieren. Luxus und Überfluss werden verurteilt, weil sie den Charakter verformten, Chancengleichheit und Solidarität werden eingefordert.

Erfolg heißt hier: keine persönliche Karriere zu verfolgen, sondern Gutes für andere zu tun. Die Jugendlichen bewundern glückliche Menschen, die ihren Idealen leben, Vorbildern sind häufig Künstler, Schriftsteller, auch Politiker. Mädchen schätzen starke und durchsetzungsfähige Frauen in ihrem Umfeld. Die Sozialökologischen möchten keine Streber sein, wollen aber anerkannt sein in der Peer-Group: Schule sehen sie als wichtig an – ebenso den Beruf, der Berufung sein soll und Sinn machen muss. Sie hören gerne AnnenMayKantereit, Manu Chao, Plain White T’s, Coldplay, Philipp Dittberner, Gentleman und Max Herre.

 

Gechilltes Leben mit markenbewusstem Konsum

Materialistische Hedonisten haben einen angestrebten niedrigen Bildungsabschluss, möchten Spaß und ein gechilltes Leben, bemängeln die Langeweile des Alltags. Ihnen sind Partys und Shoppen wichtig, „sie legen Wert auf Repräsentation, weshalb hier Konsum vor Sparsamkeit kommt“, sehr markenbewusst eingekauft wird, gerne Modeschmuck. Fastfood steht hoch in der Gunst. Bücher spielen hier keine Rolle. Die Jugendlichen folgen dem bürgerlichen Lebenstraum von Familie, möchten in der Nähe des Heimatorts in einem Neubaugebiet leben, ihren Kindern mit einem guten Beruf etwas Besseres bieten – „der Aufstieg wird wichtig“. Sie leiden unter ihrem niedrigen Bildungsabschluss und dem damit verbundenen Stellenwert. Schule spielt in der Freizeit kaum eine Rolle, sie hoffen, später durch Fleiß aufzuholen. Viele arbeiten als Zeitungsausträger, in einem Fitnessstudio oder im Betrieb der Eltern.

 

Anspruchsvolle Konsumenten

In der Regel sind die Jugendlichen aus der expeditiven Lebenswelt mit einem guten Selbstwertgefühl ausgestattet und verfügen über ein gehöriges Selbstdarstellungspotenzial. „Sie lieben das Unkonventionelle, brauchen kreative Gestaltungsfreiräume, mit steifer Bürokratie kann man sie jagen.“ Sie feiern ihre eigene Differenz und Vielheit und wollen Karriere machen. „Diese Jugendlichen sind die flexibelsten, pragmatischsten, sie akzeptieren die Wettbewerbsgesellschaft“, resümiert Dinkelaker. Sich selbst bezeichnen sie als urbane und kosmopolitische Hipster mit klaren Zielen. Sie möchten das finanzielle Morgen schon heute haben, ebenso eine selbstbestimmte Sexualität. Die Expeditiven sind anspruchsvolle Konsumenten, die selber entscheiden möchten, welchen Sport, welche Musik sie machen, welchem Club sie beitreten wollen.