Autoren empfehlen Bücher ihrer Kollegen

Wahlverwandtschaften

14. Januar 2016
von Börsenblatt
Autoren schreiben nicht nur, sie lesen natürlich auch viel – die Werke von Kollegen. Fünf Schriftsteller über ihre aktuellen Favoriten.

Jenny Erpenbeck empfiehlt …

Weltliteratur mit dem Seziermesser

"Vor zwei Jahren saß zwischen anderen Autoren auf dem Podium eines Literaturfestivals in Aix-en-Provence ein kleiner, unscheinbarer, dunkelhaariger junger Mann mit Brille. Von dem Moment an aber, als wir seinen ersten Satz hörten, war vollkommen klar, dass da jemand spricht, der ­etwas zu sagen hat. Schon György Dragománs erstes auf Deutsch erschienenes Buch, 'Der weiße König', das ich mir gleich im Anschluss an die Veranstaltung kaufte und sofort las, beeindruckte mich tief. Nun ist im Oktober sein neues Buch, 'Der Scheiterhaufen', erschienen. In beiden Büchern begegnen wir einem Autor, der die seltene Gabe besitzt, durch die Oberfläche einer schweigsamen Welt mit dem Seziermesser des magischen Realismus in die Tiefe zu dringen.
In dieser Tiefe verfolgt er in seinem Roman den Weg der Gewalt: vom faschistischen Mord an den Juden im Rumänien der 30er Jahre über die Folterungen in den Lagern des Ceauşescu-Systems und dessen blutigen Zusammenbruch hin bis in eine von Bitterkeit geprägte Neuzeit. Anhand der Beziehung eines Waisenmädchens zur wiedergefundenen Großmutter beschreibt er, wie das Erbe von Leid, Misstrauen und erzwungenem Verrat auch die Gegenwart verdunkelt, und lässt das Geflecht, das oft so leichtfertig Freiheit genannt wird, in seiner ganzen Komplexität vor uns auferstehen. In der hervor­ragenden Übersetzung von Lacy Kornitzer liest man mit ­György Dragomán berührt und erschüttert Weltliteratur."

Ingo Schulze empfiehlt …

Das Stakkato des Lebens

"Der erste Eindruck von Ulrich Peltzers Buch 'Das bessere Leben': Hier lässt sich einer lange Zeit mit der Exposition. Zugleich tauchte ich lesend ein in die inneren Monologe von zwei Männern und einer Frau, deren Alltag vom Arbeiten und Geschäftemachen in Atem gehalten wird. Das eigentliche Ereignis aber vollzieht sich im Literarischen. Denn immer wieder weiten sich die stakkatohaften Bewusstseinsströme zu einer erzählerischen Darstellung. Jener Sylvester, der so viel Geld mit seiner Versicherung verdient hat, dass er ganze Staaten manipulieren kann, füllt Tag für Tag ein Archiv an. Seine Sehnsucht ist es, irgendwann einmal, wenn er sich aus dem Geschäft zurückgezogen haben wird, aus dem angehäuften Material die Erzählung seines eigenen einzig­artigen Lebens zu formen.
Er kommt aber nicht dazu, und das Buch macht klar, dass er auch nie dazu kommen wird: Er kann nicht aufhören zu arbeiten, weil im selben Moment sein Imperium zusammenfiele. Sylvester kommt nicht zum Erzählen. Und das hat sein Pendant in der Erzählweise und der Struktur dieses Romans. Immer dann, wenn die Figuren die vorgezeichnete Bahn verlassen, blüht das Erzählen auf. Sich das Leben erzählen zu können, ist nicht selbstverständlich, es wird im Widerstand gegen die Tagesrationalität gewonnen. Sich sein Leben erzählen zu können, bedeutet eben auch 'das bessere Leben'."

Annette Pehnt empfiehlt …

Eine kühle Selbstbefragung

"Gerade habe ich im tief verschneiten Schwarzwald den Schweizer Schriftsteller Christian Haller kennengelernt. Er schenkte mir seinen eben ­erschienenen Roman 'Die verborgenen Ufer'. Und ich ­begann, gleich nachdem wir darüber gesprochen hatten, darin zu lesen. Mit Christian Hallers Stimme, seinen sorgfältigen, warmherzigen Gedanken im Ohr, war es eine Art des Weitersprechens und Vorandenkens.
In dem Roman schaut sich ein schreibender Mensch, dem gerade der Boden unter den Füßen entzogen wird, selbst an. Er untersucht die eigene Geschichte, kühl, aber nicht kalt, mit einem Blick für die Farben und Gerüche, die Zimmer und Blicke der Kindheit. Es ist eine Selbstbefragung, die sich gleich weitet hinein in meine eigenen Fragen, in einer sorgfältigen, langsamen, klugen Sprache. Ich bin noch mittendrin, zum Glück."

Andreas Maier empfiehlt …

Poesie, groß und einfach

"Meine Neuerscheinung der letzten Zeit heißt 'Knochenmusik'. Das ist der aktuelle Gedichtband von Werner Söllner. Ich habe lange auf dieses Buch gewartet. Selten, dass ich einen Gedichtband von vorn bis hinten verschlinge, das ging mir unter den Lebenden früher nur bei Silke Scheuermann so. Manchmal kam es mir beim Lesen von 'Knochenmusik' so vor, als hätte ich seit Jahren kaum mehr wirkliche Gedichte gelesen. Bei Werner Söllner findet alles in großer Einfachheit statt, kunstvoll sind die Gedichte wie die Natur selbst, und es wird so 'Ich' gesagt, dass man diesem Ich traut.
Zugleich spricht dieses Ich in einer, auch historischen, Gebrochenheit und Verstricktheit, die den Gedichten das Privatistische verunmöglicht. Manchmal, in den freien Reimen, reichen diese Gedichte an die großen Gedichte von Nicolas Born heran. Auch in den kleineren, gereimten Gedichten findet sich kaum Gesuchtes, sondern fast immer nur Gefundenes. Vielleicht hat der große Werner Söllner auch deshalb so lange geschwiegen, weil er abgewartet hat, bis es höchste Zeit war, uns daran zu erinnern: was Poesie (Lyrik) ist."

Michael Kleeberg empfiehlt …

Süffiges und Bitteres

"Jan Koneffke bin ich zum ersten Mal in Hausach im Schwarzwald begegnet, bei José Olivers ebenso intimem wie weltoffenem Leselenz. Dort ergeben sich schnell Gespräche, und noch schneller habe ich Jan sympathisch gefunden und dachte mir, ein Mensch so nach meinem Geschmack könnte auch ein Schriftsteller nach meinem Gusto sein. Kaum hatte ich seinen damaligen Roman 'Die sieben Leben des Felix Kannmacher' gelesen, wusste ich, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Man bekommt dann als Schriftsteller so ein merkwürdiges Gefühl in der Art von: Gott sei Dank, da draußen sitzen noch ein paar andere, die in epischer Genauigkeit vom Menschen erzählen, sodass man sich ab und zu ­zurücklehnen und nur noch Leser sein darf.
Jans neuester Roman 'Ein Sonntagskind' knüpft an den letzten an und erzählt wieder einen deutschen Lebenslauf des 20. Jahrhunderts. Basierend auf Briefen des eigenen Vaters schildert er die Lebenslügen einer Generation, die nach 1945 angetreten war, alles demokratischer und besser zu machen und dabei mit zunehmender Zeit desto tiefer vergaß und verdrängte, wie sehr sie selbst in ihrer Jugend sich für die Ideologien des Nationalsozialismus und die Fantasie vom siegreichen Deutschen Reich begeistert hatte. Selten verbindet ein Gegenwartsroman das Süffige und das Bittere, das Epische und das Reflektierte so gelungen."