Der beschädigte Riese

Was kann die Amazon-Debatte bewirken?

19. Februar 2013
von Börsenblatt
Amazon Deutschland hat anhaltenden Stress. Mit Kunden, mit Autoren, mit mehr als nur einem Lieferanten, mit der Presse. Und sogar mit der Politik. Auslöser dafür war eine halbstündige Dokumentation spätabends in der ARD, die einen üblen Umgang des Unternehmens mit seinen ausländischen Saisonarbeitern zeigte. Seit deren Ausstrahlung vergangenen Mittwoch bläst ein starker Shitstorm aus wechselnden Richtungen gen Bad Hersfeld, München und Seattle.

Gemessen an der durchschnittlichen Empörungsdauer nach Skandalen, geht das nun schon länger, als uns coole Kenner des Konsumentenverhaltens vorausgesagt haben. Auf boersenblatt.net sind übers Wochenende mehr als hundert, zum Teil ausführliche Leserbeiträge zusammengekommen: ein breiter Fluss. Im Ton wird überwiegend leidenschaftlich, in der Sache kritisch kommentiert. Vertreter größerer und großer Verlage nehmen an der Debatte bisher nicht teil, es sei denn unerkannt. Auch gibt es eine Reihe von Stimmen, die die Kritik an dem Internetriesen für (wahlweise) scheinheilig, unverhältnismäßig, verträumt oder aussichtslos halten. Diese Einreden inszenieren sich gern als „Stimmen der Vernunft“. Sind sie das wirklich?

Die weitest verbreitete Kontertechnik gegen die allgemeine Aufregung stellen Hinweise auf eine globale Missstandsnormalität dar, nennen wir sie pars pro toto den Foxconn-Komplex (Kinderarbeit in der Smartphone-Produktion). Das Argument mündet rhetorisch in die Forderung nach einer ethischen Voruntersuchung bei jeder einzelnen Konsumhandlung: Darf ich das kaufen? Offenbar soll das Manöver noch den letzten Naivling unter den Wutbürgern die Absurdität seines Ärgers über Amazon erkennen lassen und ihm suggerieren, dass prüfendes Nachdenken und Einkaufen zwei Paar Schuhe seien.

Leider überwiegt dabei polemisches Interesse, hinter das der logische Anspruch zurückzutreten hat. Denn nach welcher Logik sollte eine schlecht eingerichtete Welt den miserablen Einzelfall für hinnehmbar erklären helfen? Der Schriftsteller Frank Goosen hat das Denkmuster mal auf die knappe Ruhrgebietsformel „Woanders is auch scheiße“ gebracht. Der Satz tut gut in Gelsenkirchen, und vielleicht tröstet er ja dort. Aber eben nur dort.

Bedenkenswerter erscheinen allerdings Zweifel an der Protestwirkung, die sich aus der erlangten wirtschaftlichen und systemischen Bedeutung Amazons speisen. Die Firma bedient ihre Kunden enorm schnell und kenntnisreich. Deshalb konnte sie so dynamisch wachsen und in Deutschland mittlerweile tausende Arbeitsplätze schaffen, darunter viele voll- und gar nicht mal schlechtbezahlte. Und deshalb konnte sie in die Lage gelangen, hierzulande heute etwa jedes fünfte Buch zu verkaufen (weswegen, siehe oben, größere und große Verlage nicht mitmachen bei den Demos auf den Social-Media-Plätzen gegen ihren inzwischen wichtigsten Handelspartner).

Das zügige Wachstum des Online-Händlers hat freilich noch einen weiteren, weniger ehrenhaften Grund: Amazon zahlt seine (Niedrigst-)Steuer komplett in Luxemburg. In Deutschland trägt das Unternehmen nicht viel bei zum öffentlichen Wohlstand, im Gegenteil, es trägt ihn ab, indem es die Infrastrukturkrise der Innenstädte beschleunigt. Und es untergräbt den nach wie vor stabilsten Schutzwall des Buchhandels: die Buchpreisbindung. Das geschieht, indem diese Internetfirma beispielsweise die Sofortantiquarisierung eben erst erschienener Bücher vorantreibt und damit das große Heer der Sparfüchse anspricht, die gerne kleinste Preise entrichten und ungern groß über den Preis dafür nachdenken.

Mit anderen Worten: Es gibt einige Gründe, den Laden von Jeff Bezos klasse zu finden. Aber es gibt auch starke Gründe, ihn nicht zu mögen. Seit ein paar Tagen sind diese Ablehnungsgründe besser sichtbar geworden. Der Sturm der Entrüstung wird dennoch bald abklingen. Amazon trägt soeben das Seine dazu bei, indem es sich sowohl von dem in der ARD kritisierten Sicherheitsdienst als auch von dem für den Personentransport zuständigen Dienstleister trennt. Damit glaubt man vermutlich, auf seinem quasi steuerbefreiten Weg zur totalen Handelsherrschaft zwei Steine des Anstoßes weggeräumt zu haben. Wird das reichen, dass dem Riesen aus dem aktuellen Schaden kein Riesenschaden entsteht?

Die in Teilen hoch reflektierte Aufregung über Amazon wird in ein paar Wochen an dem Umstand, dass frei wählende Konsumenten zu allererst so frei sind, ihren Eigennutz zu verfolgen, nicht viel geändert haben. Aber die beiden ARD-Filmautoren Diana Löbl und Peter Onneken haben mit ihrer dunklen Doku zu später Stunde womöglich mehr ausgelöst, als solche Sendungen für gewöhnlich auslösen: Sie haben eine Art Bartleby-Geist geweckt, den Möglichkeitssinn des Konsumenten für ein ganz bewusstes „Ich möchte lieber nicht“. Das wird sich nicht gleich zur Massenbewegung erheben. Aber es könnten mehr als wenige werden. Wie schrieb sehr ausgeruht ein Kommentator in der „Welt“: „In der Konsumgesellschaft ist ja jede Kaufentscheidung eine Wahl. Und dafür muss man nicht mal um die Ecke denken, sondern nur um die Ecke gehen.“

Der Buchhandel hat die letzten Tage seinem aufgestauten Ärger Luft gemacht, in zahlreichen Aspekten völlig zu Recht. Jetzt wäre eine günstige Gelegenheit, neben Amazons Schwächen vor allem die eigenen Stärken ins Gespräch zu bringen. Die meisten Buchhändler tun das sowieso tagein, tagaus. So viele geneigte Zuhörer wie derzeit hatten sie allerdings in Deutschland lange nicht.

Torsten Casimir