Gastspiel

Von Pflicht, Kür und Lifestyle

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Warum kaufen die Menschen so gern Kochbücher? Weil sie nicht mehr jeden Tag am Herd stehen müssen, meint Hanni Rützler. Die Ernährungsexpertin leitet das futurefoodstudio in Wien.

Kochbücher sind wie Schau­fenster. Wir flanieren durch die bunten Seiten wie durch Fußgängerzonen und Einkaufsmeilen, werfen einen Blick in die Edel-Auslage, schlendern weiter zu den Fenstern mit den Sonderangeboten; finden, dass uns das entzückende Verbene-Dessert mit dem karamellisierten Zitronat gut stehen würde; werden ein wenig neidisch, weil wir uns das Kobe-Steak ja doch nicht leisten können.

Seit zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein unübersehbarer Kochbuch-Boom ausgebrochen ist, rätselt die Fachwelt, ob sich darin ein tatsächlich gesteigerter Bedarf an kulinarischem Wissen und eine wachsende gelebte Kochpraxis ausdrückt, oder ob der Boom bloß Beleg für die kulturwissenschaftliche Theorie der Interpassivität ist, mit der der österreichische Philosoph Robert Pfaller das paradoxe Phänomen des »delegierten Genießens« beschreibt.

Die Lektüre als Ersatzhandlung, bei der das Lesen von Rezepten, das Betrachten von kunstvoll inszenierten Food-Fotos anstelle des Kochens selbst tritt. Kurz: Statt sich selbst am Kochen zu erfreuen, ergötzen wir uns bloß noch am Genießen des Anderen. Aber ist das wirklich so? Vieles spricht dafür, dass es sich nicht um ein Entweder-oder handelt. So wie Window Shopper immer wieder auch Real Shopper sind, so finden sich auch Kochbuch-Flaneure immer öfter in der Küche wieder.
Dass Kochbücher die Etalage des modernen Cookovore sind, des »kochenden Affen«, wie Richard W. Wrangham den Menschen nennt, und sich vom nüchternen Hausfrauen-Ratgeber zum Lifestyle-Produkt gewandelt haben, markiert den Wandel in unserer Esskultur. Diese ist mehr und mehr vom Außer-Haus-Konsum und einer Convenience-Küche im Alltag zu Hause geprägt. Und das bedeutet, dass das Versorgungskochen nicht mehr täglich geleistet werden muss.

Damit hat einerseits die Kochkompetenz rasant abgenommen, anderseits aber wurde das Kochen selbst aus der Pflicht entlassen. Als Kür und als Hobby findet es folglich wieder mehr und mehr zurück in unsere Wohnungen. Und dafür braucht es Kochbücher: Zur Kompensation des nicht mehr vorhandenen Know-hows ebenso wie zur Inspiration für lustbetontes Kochen, das vor allem durch Jamie Olivers Bestseller ein breiteres und vermehrt auch männliches Publikum jenseits der ebenso wachsenden Foodie-Szene erfasst hat, die eher zu den bibliophilen Kulinarika von Alain Ducasse bis Yotam Ottolenghi greift.

Dass viele Hochglanzkochbücher das Schicksal von Kunstbänden ereilt, dass sie als Geschenke im Bücherregal verschwinden, ist nicht immer der Kochfaulheit der Beschenkten anzulasten; vielfach handelt es sich bei solchen Büchern auch bloß um personalisiertes Produktmarketing von Spitzen- oder Fernsehköchen ohne nennenswerten Gebrauchswert. Darüber hinaus spiegelt das Kochbuch-Angebot aber auch Trends wider, die nicht bloß schnell­lebigen Moden entsprechen.
Zunehmende Formen von Nahrungsmittelallergien und Unverträglichkeiten, ein wachsendes Misstrauen gegen die Lebensmittelindustrie, der Megatrend Gesundheit und die steigende Sensibilität gegenüber der mechanisierten Fleischproduktion verstärken die Nachfrage nach individuellen Alltagslösungen – von glutenfreien Gerichten bis zu  vegetarischen Alternativen, für die es vor allem im deutschsprachigen Raum lange Zeit keine gelebte Küchentradition gegeben hat.
Die neuen Gemüsekochbücher, die zurzeit den Kochbuchmarkt prägen, sind daher auch für gestandene Köchinnen eine willkommene, lang ersehnte Bereicherung.

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