Gastspiel von Jochen Jung

Ein seltsamer Kunde

18. Februar 2016
von Börsenblatt
Ein Mann kommt mit einem Rilke-Bändchen zur Kasse, und auf die Frage der Buchhändlerin, ob er es haben wolle, sagt er: "Bitte erst ein Gedicht daraus lesen." Jochen Jung über die Alternative zum Verkaufsgespräch.

Er war an einem Fenster vorbeigekommen, in dem lauter Bücher herumlagen, und wie er dann entdeckte, sah es in dem Raum dahinter nicht viel anders aus. Die Tür schien offen, also ging er hinein. Die Hausherrin hieß ihn willkommen und fragte den ihr völlig Unbekannten, ob sie ihm irgendwie helfen könne. Er versicherte ihr, ihm gehe es gut, unter Büchern sowieso immer, und sollte es ein Problem geben, solange er in ihrer Nähe sei, komme er gern auf ihre Hilfsbereitschaft zurück. Einstweilen würd’ er sich, wenn es recht wäre, einfach ein wenig umsehen. Sie schien ihm leicht irritiert, zeigte sich aber einverstanden.
Zunächst wusste er gar nicht, wo er zuerst hinschauen sollte, der Raum war voll mit Büchern, und es wäre ihm nicht leichtgefallen zu sagen, ob es ordentlich oder unordentlich aussehe. Einerseits lagen auf jedem Tischchen, jeder Bank Bücher – ­einige stapelten sich sogar am Boden –, andererseits waren an manchen Stellen Schilder angebracht, die sich offensichtlich auf die darunter versammelten Bücher bezogen. Es gab sozusagen alles Mögliche, und es wäre ihm schwergefallen zu sagen, was die Vorlieben der Hausherrin sein könnten.
Er schaute noch einmal zu ihr hinüber und entdeckte sie hinter einer halbrunden tischähnlichen Barriere neben einer Kasse, was ihm im ersten Moment etwas ordinär vorkam, sie aber schien sich da ganz wohl zu fühlen. Auch der Herr, der ihr gegenüber stand, schien mit dem Austausch von Geldscheinen und Münzen einverstanden.
Der Gast war inzwischen in einer Ecke vor einem kleinen Bücherschrank stehen geblieben, an dem ein Schild mit der Aufschrift "Lyrik" angebracht war, ein Wort, das er nicht zuletzt deswegen liebte, weil es wie aus dem Namen eines seiner Lieblinge gemacht schien: Rilke. Den fand er dort auch, und er zog einen Band heraus, blätterte ein wenig darin und ging damit zu der Dame, die ihn wieder freundlich anlächelte und fragte, ob er das Buch haben wolle. Vielleicht, sagte er, erst aber bitte er sie, ihm irgendeines der Gedichte daraus vorzulesen.
– "Jetzt? Hier?"
– "Ja, genau, jetzt und hier", war die Antwort. "Egal, welches, irgendeins."
Sie war jetzt noch ein wenig irritierter als zuvor, ertappte sich aber schon dabei, im Inhaltsverzeichnis nach einem Gedicht zu suchen, das sie kannte und das ihr gegebenenfalls zur Jahreszeit zu passen schien: "Blaue Hortensie". Und als sie es gefunden hatte, schaute sie nur kurz um sich und fing an. In der ersten Strophe versprach sie sich noch zweimal, dann aber las sie fehlerfrei und zunehmend sicher und mit selbstbewusster Stimme das ganze Gedicht.
Als sie fertig war, sah sie in die staunenden Gesichter ihrer überraschten Zuhörerschaft, eine Zuhörerin fing an zu klatschen und die anderen zufälligen Mithörer schlossen sich an, vor allem der, der es sich gewünscht hatte. Natürlich hatte er im eigenen Bücherschrank alles von Rilke, aber er kaufte das Buch, nachdem er die Buchhändlerin gebeten hatte, ihm ihren Namen auf die Seite zu schreiben, die sie gerade vorgelesen hatte. Strahlend ging er wieder auf die Straße, und ebenso strahlend blieb die Buchhändlerin zwischen ihren Büchern zurück.