Gastspiel von Rainer Moritz

Altern mit Dubslav

14. Juli 2016
von Börsenblatt
Die Jahre ziehen ins Land und die Erholungsphasen werden immer länger? Rainer Moritz hat sich damit arrangiert. Denn für ihn steht fest: Bücher halten nicht nur munter – sie bewahren uns auch vor Unsinn.  

Eines vorweg: Ich fühle mich sehr gut, bin bei bester Gesundheit und spüre den Muskelkater, nachdem ich mit meinem Sohn Fußball gespielt habe, nie länger als eine Woche. Dennoch mache ich mir hin und wieder Gedanken über mögliche, natürlich in weiter Ferne liegende Verfalls­erscheinungen, zumal mir tagtäglich Menschen meines Jahrgangs begegnen, die – ganz objektiv betrachtet und im Gegensatz zu mir – auf unschöne Weise gealtert sind. 

Natürlich, sagte ich mir schon vor Jahren, muss man frühzeitig etwas tun gegen die Symptome des Niedergangs. Mit Befriedigung las ich, dass der fast 103 Jahre alt gewordene Ernst Jünger jeden Tag eine Flasche nicht zu leichten Rotweins zu sich genommen habe. Dass er sich überdies am Morgen mit einem eiskalten Wannenbad erquickte, überlas ich hingegen gern. Den Rotweingedanken zumindest habe ich in maßvoller Weise aufgegriffen und mich auch sonst bemüht, alle modernen Zeitströmungen aufzusaugen und auf mein Leben zu übertragen. Was, ehrlich gesagt, auf Dauer recht anstrengend ist. Ja, gewiss, ich mühe mich redlich, überall auf Nachhaltigkeit zu schauen und Achtsamkeit walten zu lassen, wenngleich ich bis heute nicht genau weiß, was Achtsamkeit außerhalb des Straßenverkehrs bedeutet. Der recht lange Wikipedia-Eintrag verwirrt mich eher. Hinzu kommt, dass ich seit Langem – noch bevor Wilhelm Schmid damit die Bestsellerlisten er­oberte – ein großer Freund der Gelassenheit bin. 

Alles könnte in Butter sein, doch nach und nach stellte ich fest, dass mich dieses Ständig-auf-sich-selbst-Achten zu überfordern drohte. Sollte so mein Alter aussehen? Ständig aufpassen, ständig nachhaltig, achtsam und gelassen zu sein? Und – das kam vor Kurzem dazu – über Resilienz zu verfügen oder sie zu vervollkommnen, also sich eine Art seelische Widerstandskraft anzueignen. Spätestens, als das mit der Resilienz verstärkt im Schwange war, habe ich mich ausgeklinkt, mich nur noch an Ernst Jüngers Rotweinexpertise gehalten und mich alten Hausmitteln zugewandt. Sollen doch die anderen sich abschuften und gelassen-achtsam nachhaltige Resilienz an den Tag legen. Ich lese Romane, um mich frisch wie ein Aprilmorgen zu fühlen, am liebsten solche, die von älteren Menschen handeln, die sich um all das modische Zeugs nicht kümmern und sich von keinem Gesundheits- oder Esoterikhansel etwas aufschwatzen lassen. In diesen Romanen sollen keine exzentrischen Personen vorkommen, die meinen, das Alter dadurch aufschieben zu können, dass sie im Seniorenstift Remmidemmi machen, schrille Kleidung anziehen und statt Anneliese Rothenberger die Popmusik ihrer Enkel hören. 

Machen Sie es wie ich! Lesen Sie Adalbert Stifters »Nachsommer«, wo Ihnen der Freiherr von Risach altersweise die Welt erklärt und angekündigte Gewitter ausbleiben. Oder Fontanes »Stechlin«. »Solange ich hier sitze, so lange hält es noch. Aber freilich, es kommen andere Tage« – so räsoniert seine Hauptfigur Dubslav von Stechlin, ein Mann, der weiß, dass er diese anderen Tage nicht mehr erleben wird. Fontanes viel zitiertes Resümee des Plots – »Zum Schluss stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich« – wirkt beruhigend und ist der Gesundheit förderlich. Da hat einer viel erlebt, da erträgt einer, dass die Zukunft anders aussehen wird als die Gegenwart, und da lebt einer weiter, ohne gleichgültig oder lächerlich zu werden. Altern, nein, sehr langsam altern mit Dubslav – das ist mein Motto.