Gastspiel von Ulrich Noller

"Nur" ein Krimi?

28. Januar 2016
von Börsenblatt
Gegenwartsroman, Politthriller, Reportage oder Zeitgeschichtsstück? Die heutige Genreliteratur operiert zunehmend an den Grenzen des Genres. Meint Ulrich Noller, Jurymitglied der Krimi"Zeit"-Bestenliste.

Merle Kröger hat im vergangenen Jahr richtig abgeräumt: Mit ihrem Thriller "Havarie" (Ariadne Krimi im Argument Verlag), dem Roman zur Stunde in Sachen Flüchtlingskrise, wurde die Berliner Krimiautorin von den Juroren der Krimi"Zei"«-Bestenliste auf den zweiten Platz der Jahreswertung gewählt, beim Deutschen Krimi Preis belegte sie in der Kategorie National Rang 2, die Besprechungen des Romans in den Medien waren durch die Bank angetan bis begeistert.
Krimiautorin? Thriller? Darüber kann in diesem Fall genau genommen allerdings recht trefflich gestritten werden: Merle Kröger ist Filmemacherin, Produzentin und, natürlich, auch Autorin. Aber ihr Roman geht in Sachen "Thriller" so sehr an die Grenzen des Genres, dass man hartgesottenen Fans konventionell erzählter Thriller fast von der Lektüre abraten möchte, um ihnen und diesem – großartigen – Roman die Enttäuschung zu ersparen.
"Havarie" berichtet von Flüchtlingen, Reisenden, Seeleuten und Grenzschützern, die einander auf dem Mittelmeer begegnen, Merle Kröger taucht tief ein in Lebensgeschichten, Milieus und Kontexte. Das ist nicht nur blendend erzählt und inszeniert, sondern insbesondere auch hervorragend recherchiert, aber eben kein gefühliger Angstlust-Schocker, bei dem Thrill und Suspense im Mittelpunkt stehen. Im Gegenteil: "Havarie" bietet dokumentarische Literatur, bei der die Mittel des Thrillers nur sparsam angedeutet sind, als Motor zum Transport des Themas.
Nach "spannend wie ein Krimi" ist die Formulierung "mehr als ein Krimi" vermutlich die gängigste Phrase in Sachen Spannungsliteratur, sehr zum Leidwesen routinierter Spannungsleser. Sie wissen, dass mit dieser Floskel, bei der ein kleines "nur" unausgesprochen mitschwingt, doch immer wieder die althergebrachte Einteilung in E- und U-Literatur reproduziert wird, bei der "der Krimi" sich erfahrungsgemäß ganz unten im U gebettet findet. Immer noch alles Mist also, von ein paar Ausnahmen wie Merle Kröger abgesehen, die letztlich bloß die Regel bestätigen?
Schaut man sich die sechs Gewinner des Deutschen Krimi Preises oder die zehn Nominierten der Krimi"Zeit"-Jahresbestenliste im Gesamten an, so fällt auf, dass es sich fast ausschließlich um Autorinnen und Autoren handelt, die mit ihren sprachlich und dramaturgisch oft ambitionierten Geschichten an die Grenzen des Genres gehen. Etwas zugespitzt könnte man formulieren: Ein guter Krimi muss heutzutage an den Grenzen des Genres operieren; herausragende zeitgenössische Spannungsautoren beherrschen die Regeln aus dem Effeff – und sie haben zugleich eine Idee davon, wie sie diese Regeln variieren, manipulieren, brechen können. Und das auf hohem künstlerischen, auf hohem literarischen Niveau.
Diesen – globalen – Trend gibt es übrigens schon seit gut 20 Jahren, mittlerweile ist er von den Rändern weg in den Mainstream gewandert und zum Standard geworden. Die Grenzen des Genres, das sind die Gefilde, in denen es sich in vielfacher Hinsicht derzeit ganz besonders spannend liest.