Geschwister-Scholl-Preis

"Das späte Zeugnis eines Überlebenden"

6. Juli 2015
von Andreas Trojan
Der Historiker Otto Dov Kulka hat am Montagabend in München den Geschwister-Scholl-Preis 2013 bekommen. Eine bewegende Preisverleihung - und herzliche Worte des Preisträgers.

Otto Dov Kulka ist Historiker. Er hat Standardwerke über das Leben der Juden unter der NS-Zeit und über den Völkermord an ihnen geschrieben. Und er hat als Forscher etwas Ungewöhnliches getan: Schon Mitte der 1960er Jahre reiste er nach West- und Ostdeutschland, also zu einer Zeit, als andere israelische Geschichtswissenschaftler sich weigerten, deutschen Boden zu betreten. Und er hat gleich mit deutschen Kollegen zusammengearbeitet, etwa mit Hans Mommsen und Eberhard Jäckel.

Die Laudatio auf Kulka hielt jedoch eine weit jüngere Kollegin, Susanne Heim vom Institut für Zeitgeschichte. Kulka arbeite immer noch zehn bis zwölf Stunden täglich an der Hebräischen Universität von Jerusalem, erzählte Heim: "Noch heute hat er einen Arbeitsraum an der Uni, der bis unter die Decke vollgestopft ist mit Büchern und in dem die Manuskriptstapel langsam von den Wänden her in die Raummitte wachsen. Ein Computer gewährleistet den Überblick."

Otto Dov Kulka hat den Geschwister-Scholl-Preis nicht für ein rein historisches Buch zugesprochen bekommen, sondern für ein sehr persönliches. In "Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft" (DVA) beschreibt Kulka die Zeit, als er im Alter von zehn Jahren nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde.

Der Autor und sein Vater haben das Grauen wie durch ein Wunder überlebt. Doch das Leben im Lager und die Gaskammern bleiben präsent, sind unauslöschliche Spuren der Erinnerung. Als Kind begriff Kulka, was da geschah und ging dennoch kindlich-spielerisch mit der Situation um. Susanne Heim: "Das Grauen tritt erst dadurch hervor, dass der Leser um die Verbrechen und die Brutalität des Lagers weiß. In der Spannung zwischen diesem Wissen und den Schilderungen des blauen Sommerhimmels über dem Lager als Inbegriff der Schönheit, wird die Urerfahrung des lauernden Grauens spürbar."

"Es darf keinen Schlussstrich geben!" Diesen Satz machte Münchens Oberbürgermeister Christian Ude zum Motto seiner Rede. Und damit gleichzeitig deutlich, dass mit dem Geschwister-Scholl-Preis einerseits auch Bücher auszeichnet werden müssen, die sich mit schwerem Unrecht und mit Verfolgung in der Gegenwart auseinandersetzten. Andererseits, so Ude, dürfe deswegen nicht die Erinnerung an das Grauen der NS-Zeit in den Hintergrund rücken und so langsam verblassen. Kulkas Werk werfe einen neuen Blick auf die Schreckenszeit: "Der Blick des Kindes auf Auschwitz, dieser neue Blick, geht jedem Leser unter die Haut."

Christian Ude bedankte sich bei der Jury, die mit Kulkas Buch auch einen "literarisch bemerkenswerten Text" ausgezeichnet habe. Zwar hält Otto Dov Kulka im Buch stets sein Wissen als Historiker präsent, aber seine Sprache, reich an Metaphern, und seine persönlichen Schilderungen hat er mit der Feder des Schriftstellers geschrieben.

Jörg Platiel, Vorsitzender des Börsenvereins-Landesverband Bayern, nannte Kulkas Buch "das späte Zeugnis eines Überlebenden an der Grenze des Vergessens". Der Autor hatte lange gezögert, seine Erinnerungen öffentlich zu machen. Denn die Bilder, die der Autor im Kopf hat, gehören zu seinem persönlichen Leben, sind, so Platiel, eine Art Bewältigungsrefugium – "ein Refugium, das, so erstaunlich das klingen mag, für ihn ein Zufluchtsort geworden ist, in aussichtslosen Situationen seines Lebens."

Otto Dov Kulka ist dieses Jahr achtzig Jahre alt geworden. Die Auszeichnung seines Buchs "Landschaften der Metropole des Todes" mit dem Geschwister-Scholl-Preis ist für ihn eine besondere Würdigung. Das merkte man, als der Preisträger mit sicherem Schritt das Podium des Festsaales der Ludwig-Maximilian-Universität betrat und seine Dankensrede hielt.

Kulka ging auf das vorbildliche Wehrverhalten der Geschwister Scholl und ihrer Gruppe ein, auch sie waren damals junge Menschen gewesen, die dort Mut und Courage gezeigt hätten, wo der Rest der Deutschen einfach weggeschaut habe. Und weil er selbst als Kind das absolute Grauen kennenlernen musste, habe auch er, spät aber doch, den Mut gefunden, seine persönlichen Erinnerungen zu Papier zu bringen.

Für ihn als Historiker sei es ein großer Schritt gewesen, in einer "metaphorischen Sprache" über das Erlebte zu schreiben. "Ich bin mir auch bewusst, dass diese Texte, obgleich im historischen Geschehen verankert, über die Sphäre der Geschichte hinausweisen." Kulkas Rede endete so herzlich wie weltoffen: "Ich schätze diese Würdigung sehr. Mein aufrichtiger Dank geht an Sie alle!"