Geschwister-Scholl-Preis für Otto Dov Kulka

"Das Prisma des historischen Denkens"

6. Juli 2015
von Börsenblatt
Der Historiker Otto Dov Kulka ist am Montag in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet worden. Kulka forscht und schreibt über eine Zeit, die er selbst durchlitten hat: Mit zehn Jahren kam er nach Auschwitz, in die "Metropole des Todes". Ein Interview mit dem Preisträger.

Als Historiker haben Sie Standardwerke zum Judentum im Nationalsozialismus geschrieben. Ihre eigenen Erlebnisse in Auschwitz haben Sie dagegen erst spät in Tonbandaufnahmen und Tagebuchnotizen verarbeitet − und noch viel später in dem Buch, für das Sie jetzt geehrt werden. Warum haben Sie so lange gezögert?

Nach dem Studium der Philosophie und der Frühgeschichte fiel meine Entscheidung, mich der Erforschung und der Lehre der modernen jüdischen Geschichte zu widmen, die NS-Zeit eingeschlossen. Jahrzehntelang glaubte ich, dass es ausschließlich der wissenschaftliche Weg sein könne, auf dem ich diese Vergangenheit verstehen will. Sie können fragen: Wo war Auschwitz die ganze Zeit? Es war anwesend, aber nur in meinen Tagebüchern und Träumen. Etwa vor 20 Jahren hatte ich zugestimmt, eine Reihe von Interviews aufzuzeichnen, die eigentlich eher monologische Reflexionen zu dieser "Metropole des Todes" sind. Und erst nachdem ich die letzten Forschungs- und Dokumentationsprojekte in den Jahren 1997 bis 2010 abgeschlossen hatte, beschloss ich, meine sozusagen außerwissenschaftlichen, privaten Betrachtungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Der Historiker sammelt Fakten, eine persönliche Schilderung lebt von Erinnerungsbildern, auch wenn es Schreckensbilder sind. Ist nun der autobiografisch schreibende Autor Kulka dem "Unerklärlichen" nähergekommen als der Historiker Kulka?

Möglicherweise ja. Aber nicht als autobiografisch Schreibender, sondern im reflexiven Denken des Historikers und in seiner metaphorischen Sprache. Ich möchte hier die zwei Betrachtungsweisen in meiner sogenannten privaten Mythologie erklären: zum einen die unmittelbare, direkte Erfahrung der Welt von Auschwitz, die der Verstand des Kindes nicht in vollem Umfange erfassen konnte. Und gleichzeitig die zweite Dimension, betrachtet durch das Prisma meines reflektierenden historischen Denkens, die in der Abstraktion der Realität − der letzten Phase der "Endlösung" − besteht. Im Letzteren geht es mir um die Bedeutung von Auschwitz als Quint­essenz, als Inbegriff und Verwirklichung von politischen Ideen, die den Lauf der Menschheitsgeschichte verändern sollten.

Was bedeutet Ihnen der Scholl-Preis?

Er bedeutet mir viel und ich betrachte es als große Ehre, neben den israelischen Autoren David Grossman und Saul Friedländer sowie dem chinesischen Dissidenten Liao Yiwu mit diesem Preis ausgezeichnet zu werden. Vor allem aber bewundere ich den Mut der Geschwister Scholl zur Auflehnung gegen das Regime, aber auch gegen die Gleichgültigkeit und Judenfeindlichkeit der deutschen Bevölkerung. In ihren Flugblättern sagten sie damals deutlich, "dass seit der Eroberung Polens 300.000 Juden in diesem Land auf bestialische Art ermordet worden sind. Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschheitsgeschichte an die Seite stellen kann." Aber es ist ihnen klar, zu wem sie hier sprechen. Gegen die Judenfeindlichkeit oder Gleichgültigkeit der Deutschen scheint ihnen dann ein anderes Argument wirksamer gewesen zu sein, nämlich "… dass die gesamte polnische adelige Jugend vernichtet worden ist. ( ...) Wozu wir dies ihnen alles erzählen, da sie es schon selber wissen … Man kann sich nicht freisprechen, ein jeder ist schuldig, schuldig, schuldig!"

Ein Vers lässt Sie Ihr Leben lang nicht los: "Gott möge das Blut der Unschuldigen rächen." Aber anstatt auf Sühne und Rache zu setzen, drucken Sie im Buch drei Gedichte von einer jüdischen KZ-Insassin ab. Das eine trägt den Titel "Wir, die Toten, klagen an!"- Hat heute, fast siebzig Jahre nach Ende des NS-Regimes, die immerwährende Klage den Ruf nach Rache ersetzt?

Der Vers stammt aus einem Jahrhunderte alten Gebet für Märtyrer. Gott und nicht die Menschen sollen Vergeltung üben. In dem von Ihnen zitierten Gedicht geht es weder darum zu klagen noch um Rache. Im letzten Vers des Gedichtes heißt es "…und allen Völkern schreien wir ins Gesicht: Wir, die Toten, klagen an!", was ein Aufruf zur Gerechtigkeit ist. In dem dritten, von mir ausgewähltem Gedicht schreibt die unbekannte Autorin an der Schwelle zur Gaskammer: "Und trotzdem – lieber sterb ich, spuck mir nur ins Gesicht, zum Feigling lieber Mut, als an den Händen Blut." Ich enthalte mich einer Antwort auf die Frage der Rache heute, die für mich gegenstandslos ist.

In Zeiten der Trauer und der Not nehmen Sie Werke von Franz Kafka zur Hand. Kafkas Texte sind allerdings nicht gerade hoffnungsfroh zu nennen...

Es ist in der Tat diese ausweglose Not in Kafkas Schreiben und der von vorneherein vergebliche Versuch, sie zu überwinden - und trotzdem soll man nicht verzweifeln. Diese Haltung gibt mir Kraft, in meiner eigenen Not und Verzweiflung nicht aufzugeben. Sie können sagen, dass sei paradox. Doch ich halte es hier mit Wilhelm Dilthey, der sagt, Paradoxie sei ein "Merkmal der Wahrheit".

Interview: Andreas Trojan

Preis und Preisträger

Otto Dov Kulka, 1933 in der Tschechoslowakei geboren, lebt seit 1949 in Israel, inzwischen ist er emeritierter Professor für die Geschichte der Juden an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Er hat über Jahrzehnte die Verbrechen der Nationalsozialisten erforscht.

Dass er als Kind nach Auschwitz deportiert worden war, machte er erst im Alter von 80 Jahren zum Thema seines Schreibens. Für das Erinnerungsbuch "Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft" (DVA, 192 S., 19,99 Euro) hat er am Montag in München den Geschwister-Scholl-Preis bekommen.

Mit dem Geschwister-Scholl-Preis wird jährlich ein Buch ausgezeichnet, "das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern".

Vergeben wird die Ehrung seit 1980 vom bayerischen Landesverband des Börsenvereins und der Landeshauptstadt München (Dotierung: 10.000 Euro).