Interview mit Diogenes-Lektorin Ursula Baumhauer

"Belgien und die Niederlande begreifen Literatur als Exportartikel"

28. Juni 2016
von Börsenblatt
Beim Gastlandauftritt der Frankfurter Buchmesse werden mit der flämischen und niederländischen Literatur auffällig viele gute Erzähler zu entdecken sein. Mitverantwortlich dafür ist die Literaturförderung Belgiens und der Niederlande, sagt Diogenes-Lektorin Ursula Baumhauer.

Warum spielt Literatur aus den Niederlanden und Flandern für Diogenes eine wichtige Rolle?
Weil sie so gute Erzähler hervorbringt. Unsere Liebe zu den Niederländern begann mit Leon de Winter und Connie Palmen Anfang der neunziger Jahre. Diogenes wurde auf die beiden Autoren beim Gastlandauftritt „Flandern und die Niederlande" 1993 aufmerksam. Diese Liebe setzte sich fort mit Arnon Grünberg, der eine Zeitlang auch noch unter dem Pseudonym Marek van der Jagt schrieb. Es folgten die Romane Jessica Durlachers und die historischen Künstlerromane von John Vermeulen. Sie alle sind für unser Programm sehr wichtig, und es hat sich in unserer Aufmerksamkeit tatsächlich etwas verselbstständigt: Zusammen mit der Übersetzerin Hanni Ehlers schauen wir uns die Programme der niederländischen und flämischen Verlage besonders intensiv an.

Diogenes ist nicht der einzige deutschsprachige Verlag, der niederländische und flämische Literatur besonders im Blick hat. Warum hat sie diesen guten Ruf?Eine entscheidende Rolle spielte der großartige Gastlandauftritt „Flandern und die Niederlande" 1993: Er verhalf vielen Autoren zum internationalen Durchbruch. Sicherlich wird auch 2016 ein erfolgreiches Jahr für die Flamen und Niederländer werden. Belgien und die Niederlande sind Länder mit beneidenswert interessiertem Lesepublikum und den deutschsprachigen Lesern mentalitätsmäßig möglicherweise weniger fremd als Schriftsteller aus anderen EU-Regionen. Zudem sind die Regierungen beider Länder so klug, Literatur als Exportartikel zu begreifen, und finanzieren sie kräftig, man denke nur an den niederländischen oder den flämischen Literaturfonds.

Welche Rolle spielen Geschichte und Gesellschaft der Niederlande für die Literatur?
Vielleicht gedeiht in einer Atmosphäre, die von Weltoffenheit und Weltläufigkeit ebenso geprägt ist wie von merkantilem Geist, auch eine besondere Art des Erzählens. Die einst große See- und Wirtschaftsmacht, die Auseinandersetzung mit den ehemaligen Kolonien und deren Weg in die Unabhängigkeit, das Vorherrschen von Liberalismus und Pluralismus in den sechziger und siebziger Jahren und die Fähigkeit zum Konsens haben hier Voraussetzungen geschaffen, die einen anderen Nährboden fürs Schreiben bilden als etwa in Deutschland.

Beim Gastlandauftritt 1993 waren Harry Mulisch und Cees Nooteboom die Protagonisten. Was hat sich seitdem getan?
Die beiden sind großartige universale Erzähler, und bis heute sind viele beeindruckende Schriftsteller dazugekommen. Wie Leon de Winter und Connie Palmen, oder Arnon Grünberg, der in den Niederlanden geradezu als der Maßstab gehandelt wird, an dem junge Autoren gemessen werden. Oder um nur einige zu nennen: Anna Enquist mit ihren wunderbaren psychologischen Romanen, Margriet de Moor, Ilja Leonhard Pfeijffer mit seinem wilden Buch „La Superba", A.F.Th. van der Heijden, Herman Koch mit seinen fulminanten Romanen, Tommy Wieringa oder Saskia Goldschmidt mit ihrer unglaublichen Geschichte von der „Glücksfabrik". Auch die Flamen sind stark im Kommen, unter anderem mit Saskia de Coster, Tom Lanoye, Yves Petry, Dimitri Verhulst oder Paul Baeten Gronda. Es ist eine beeindruckend facettenreiche Literatur.