Interview mit Friedenspreisträgerin Carolin Emcke

"Vielleicht waren wir lange zu sicher, dass eine Demokratie von allein funktioniert"

21. Juni 2016
von Börsenblatt
Dort, wo Gewalt und Tabus Menschen verstummen lassen, schreibt Carolin Emcke gegen die Sprachlosigkeit an. Ihr Werk sei "Vorbild für gesellschaftliches Handeln in einer Zeit, in der politische, religiöse und kulturelle Konflikte den Dialog oft nicht mehr zulassen", heißt es in der Begründung für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, den ihr der Börsenverein in diesem Jahr für ihr publizistisches Engagement verleiht. Boersenblatt.net hat mit der Preisträgerin gesprochen.    

Als Kriegsreporterin haben Sie zerstörte Gesellschaften und Schlachtfelder gesehen, haben Sie mit Opfern und Entwurzelten gesprochen. Können wir – in relativer Ruhe lebenden – Mitteleuropäer uns überhaupt noch einen Begriff davon machen, was die Abwesenheit von Frieden, Freiheit und Ordnung, was Anarchie bedeutet?
Ja, das denke ich schon. Sonst könnte ich auch gar nicht schreiben. Ich glaube an Vorstellungskraft, Einfühlungsvermögen und die Gabe, die Perspektive eines oder einer anderen zu übernehmen. Dazu braucht es nur etwas Geduld und eine behutsame Neugierde, die nicht versiegt, wenn das, was es zu hören oder erfahren gibt, schmerzlich oder düster ist. Es braucht also eine Bereitschaft, sich auch etwas auszuliefern. Im Übrigen ist die Gewalt schon auch in Europa immer noch und immer wieder sehr präsent. In den Familien, die aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland gekommen sind, in den Familien, die aus den ehemaligen Kolonien nach Europa gezogen sind, aber auch in den Ländern, die mit terroristischer Gewalt ihre Erfahrungen gemacht haben (wie Nord-Irland). Und nicht zuletzt ist die Shoah bis heute in der Generation der Überlebenden, aber auch den Nachgeborenen schmerzlich präsent.

In all ihren Büchern, Essays und Kolumnen verfolgen Sie ein Ziel: Verdrängtes und Tabuisiertes der Sprachlosigkeit zu entreißen. Ob es um traumatisierte Kriegsflüchtlinge, um Menschen mit anderer als heterosexueller Orientierung, um Täter und Opfer des RAF-Terrors geht – welche Sprache ist diesen Schicksalen angemessen?
Wenn ich das nur wüsste. Vermutlich suche ich deswegen immer wieder nach neuen Formen, anderen Genres – mal Briefe, mal Essays, mal Reportagen -, weil sich je nach Aufgabe, je nach Kontext auch immer wieder die Frage aufdrängt, wie sich Gewalt beschreiben lässt, ohne sie zu legitimieren, wie Opfer von Gewalt Gehör verschafft werden kann, ohne sie paternalistisch zu behandeln oder sie zu pathologisieren, mit welcher poetischen Kraft, mit welcher literarischen Genauigkeit sich Gewalt am wirkungsvollsten widerstehen lässt. Gegen die Sprachlosigkeit eines Traumas, die Sprachlosigkeit eines Tabus oder das Schweigen dogmatischer Fanatiker anzuschreiben, verlangt immer etwas anderes. Bei der Tabuisierung von Homosexualität war es mir beispielsweise wichtig, die mit dem Tabu verkoppelte Scham zu unterwandern. Deswegen brauchte der Text eine subjektive Perspektive, jemanden, die „ich“ sagt und nicht schweigen will. Bei den Opfern extremer Entrechtung und Gewalt ist es wiederum wichtig, die Brüche in der Sprache, das Stottern oder aufgeregte Erzählen nicht etwa zu pathologisieren, sondern es vielmehr als eine angemessene Beschreibung verstörender Gewalt zu werten.

In „Stumme Gewalt“ erinnern Sie, wie Ihnen beim Anblick des zerstörten Dienstwagens Ihres Patenonkels Alfred Herrhausen der erste Satz aus Uwe Johnsons „Mutmassungen über Jakob“ in den Sinn kommt. Welche literarischen Stimmen sind Ihre ständigen Begleiter und haben Ihr Schreiben beeinflusst (oder regen es immer aufs Neue an)?
Oh weh. Das sind so viele. Es sind vor allem ganz unterschiedliche Autorinnen und Autoren, Denkerinnen und Denker, die mich mein Leben lang begleiten. Alle stehen für etwas anderes, das mir wichtig war oder ist. Ingeborg Bachmann und Anne Carson, Primo Levi und Jean Améry, Aleksandar Tisma und W.G. Sebald, Hannah Arendt und Michel Foucault. Aber natürlich auch die, bei denen ich studieren und lernen durfte: Jürgen Habermas und Seyla Benhabib. Aber wenn Sie mich nach musikalischen Begleitern gefragt hätten, wäre die Liste noch länger gewesen. Für mich ist Musik sicherlich so einflußreich gewesen wie die Literatur oder die Philosophie.

Ihr Erzählen hat etwas Tastendes, Fragendes, manchmal Kreisendes. Gehört zur differenzierten Wahrnehmung notwendig das Ambivalente, das Subtile und der Zweifel?
Vielleicht kann ich es auch nur nicht besser (lacht) Für mich ist Schreiben ohne diesen Zweifel nicht denkbar. Ich versuche beim Schreiben, die möglichen Einwände, die möglichen anderen Perspektiven mit zu bedenken. Mich also immer wieder zu fragen: stimmt das wirklich? Ist das verallgemeinerbar? Das ist an sich nichts Besonderes. Bei mir tritt dieses Fragende, treten diese Annäherungen nur sichtbar im Text zutage.

Ist Ihr Schreiben auch der Versuch, in einer Welt kollektiver Zuschreibungen und Vereinnahmungen das Individuelle zu verteidigen?
Hannah Arendt hat einmal gesagt, dass man sich nur als das verteidigen kann, als was man auch angegriffen ist. Insofern gibt es natürlich Bezüge zu Kollektiven, zu denen ich gehöre und gehören will – und in denen ich mich verteidige, wenn ich angegriffen werde. Menschen, die so lieben und begehren wie ich, werden immer noch herabgesetzt und ausgegrenzt, in vielen Ländern weltweit auch noch eingesperrt und hingerichtet. Insofern ist es von politischer Relevanz, sich nicht davon zu stehlen, sich nicht nur auf die private Individualität berufen, sondern auch als politische Bewegung sichtbar zu werden. Aber immer geht es um das Individuum, das unvertretbar und singulär geschützt werden soll.

Hass und Ausgrenzung gelten in den Augen vieler inzwischen als „salonfähig“ – laut Umfragen mit steigender Tendenz. In welchem Salon leben wir in Deutschland?
Das ist eine gute Frage. Vielleicht waren wir lange zu sicher, dass eine Demokratie von allein funktioniert, dass Europa als anti-nationalistisches Projekt, als ein Versprechen auf Pluralität sich allein erläutert. Vielleicht ist es für meine Generation nun an der Zeit, dass wir das, was uns geschenkt wurde, für das wir nichts tun mussten, nämlich den Rechtsstaat und eine offene Demokratie, verteidigen müssen. Mein Eindruck ist, dass es nicht mehr reicht, einfach nur die Begriffe aufzurufen, um die es da gehen soll: Freiheit und Gleichheit, Säkularität und Menschenrechte – ich fürchte, sie müssen wieder ausbuchstabiert werden. Jeder einzelne. Es muss wieder in eine Sprache und in Erfahrungen übersetzt werden, die Menschen verstehen und berühren. Es nützt nichts mehr, einfach zu sagen: „das ist rassistisch“ oder „das ist undemokratisch“, es muss beschrieben und begründet werden. Und zwar allen gegenüber.

Friedliches Zusammenleben ist ein Ideal, das an Grenzen stößt. Wie sollte man Ihrer Meinung nach mit Gruppen umgehen, die einen scheinbar unversöhnlichen Hass auf die offene Gesellschaft richten?
Darauf versuche ich, in meinem neuen Buch „Gegen den Hass“ zu antworten. Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man die Einladung des Hasses, sich ihm anzuverwandeln, ausschlägt. Wer Hass mit Hass beantwortet, lässt sich zu dem machen, was die Hassenden wollen, das man sei. Ich will mich nicht ethisch verstümmeln lassen, nur weil mich Menschen verachten oder hassen. Dem Hass begegnen, dem Fanatismus begegnen lässt sich nur, in dem man das aktiviert, was denen abgeht: genaues Beobachten, Selbstzweifel und die Fähigkeit zur Ironie. Für die Extremisten, für die gewalttätigen Gruppen sind die Sicherheitsbehörden zuständig. Aber für den Hass, der unterhalb der Gewalt sich äußert, für den Hass, der den öffentlichen Raum einnimmt und in Zonen der Angst verwandelt, dafür ist die ganze Zivilgesellschaft, dafür sind wir alle zuständig.

Über Carolin Emcke
Carolin Emcke, geboren 1967, studierte Philosophie und promovierte über den Begriff »kollektiver Identität«. Sie lebt als freie Publizistin in Berlin. Immer wieder engagiert sie sich auch mit künstlerischen Projekten und Interventionen. Seit über zehn Jahren organisiert und moderiert Carolin Emcke die monatliche Diskussionsreihe »Streitraum« an der Schaubühne Berlin. Für ihr Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen und dem Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Bei S. Fischer erschienen ›Von den Kriegen. Briefe an Freunde‹, ›Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF‹, ›Wie wir begehren‹ und ›Weil es sagbar ist: Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit‹.

Auszeichnungen
2016 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
2015 Lessing-Preis des Freistaats Sachsen
2015 Preis der Lichtenberg Poetik-Dozentur
2014 Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay
2012 Ulrich-Wickert-Preis für Kinderrechte
2010 Journalistin des Jahres, mediummagazin
2010 Reporterpreis – Beste Reportage
2010 Otto-Brenner-Preis, 1. Preis
2008 Theodor-Wolff-Preis in der Kategorie Essay
2006 Förderpreis des Ernst-Bloch-Preises
2005 Das politische Buch der Friedrich-Ebert-Stiftung