Interview mit Jo Lendle über Hanser Box

"Wir befinden uns im Zeitalter der Entdecker, nicht der Goldgräber"

16. Juli 2015
von Börsenblatt
Elektronische Kurztexte gibt es auch in anderen Verlagen, doch das Konzept des neuen Digitalverlags Hanser Box unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von anderen Angeboten: Die Publikationen finden nur dort und nur digital statt, das Programm ist kuratiert und ergänzt zugleich als "digitales Beiboot" das klassische, immer auch analoge Programm der Hanser-Flotte. Boersenblatt.net hat mit Verleger Jo Lendle über die Hanser Box und ihre Möglichkeiten gesprochen.

Die Texte, die ab 1. Oktober jeden Mittwoch in der Hanser Box elektronisch veröffentlicht werden, hätten "früher kein abendfüllendes Buch" ergeben, sagen Sie. Das könnte man auch von anderen Büchern sagen, die im Printprogramm von Hanser erscheinen. Wollen Sie auch kleine, kurze Titel aus dem Programm in die Hanser Box verschieben?
Nein, das ist kein Substitut. Wir machen bei Hanser das Programm weiter wie bisher, damit sind wir sehr glücklich. Die Hanser Box hingegen gibt den Autoren Gelegenheit, zwischen den Büchern Flagge zu zeigen; sie eröffnet ihnen die Möglichkeit, mit Geschriebenem, für das man bisher keinen geeigneten Einzel-Publikationsort finden konnte, die Würde des eigenen Auftritts zu erleben. Es sollen also Texte sein, die es nur dort und nirgends sonst gibt. Zugleich bietet die Hanser Box die Möglichkeit, auf dem Feld des digitalen Publizierens Erfahrungen zu sammeln und zu experimentieren.

Wählen Sie auch Texte für die Hanser Box aus, für die es keine angestammten Plätze mehr in den Feuilletons gibt – etwa für kleinere Essays?
Das kurze Format hat auf jeden Fall von zwei Seiten Freunde verloren. Bei Büchern setzt man auf wuchtige Formate, die kleinen verlieren ihre Plätze. Und den Zeitungen und Zeitschriften ist heute vieles zu lang. Aktuell hatten wir die Situation, dass zwei unserer politischen Autoren auf dem Kiewer Majdan waren und viel Material hatten, aber ein bestimmtes Maß an Beobachtung nicht mehr in die journalistischen Wege einspeisen konnten. Für solche Dinge schafft die Hanser Box Platz.

Ist die Hanser Box auch ein Experimentierfeld? Wird es darin Textgattungen geben, die es bisher in gedruckter Form noch nicht gegeben hat oder nicht geben konnte?
Auf jeden Fall ist das auch ein Labor. Es geht uns darum, das Verlegen nicht so defensiv zu denken. Wir alle erleben täglich, dass das Publizieren schwerer wird, sich mit immer engeren Nischen abfinden muss – und wir würden gern wieder einen Schritt hinaus machen und versuchen, neue Formen zu finden. Und auch zu überlegen: Was kann Publizieren heute sein? Ein kleines Zeichen für dieses Neudenken ist, dass es in der Hanser Box keine Hochkant-Cover gibt, sondern die quadratischen Formen mit abgerundeten Ecken. Das klassische Buch ist perfekt, wie es ist. Wenn man das Ganze aber sowieso neu denkt, dann kann man es auch auf vielen Feldern neu denken.

Das heißt, es wird auch die Linearität von Geschichten, wie wir sie kennen, aufgebrochen …
Das ist absolut möglich. Da ist die Hanser Box allerdings noch kein Vorreiter für nichtlineares Erzählen, was auch daran liegt, dass wir die Sache anfangs technisch relativ leicht halten, um auf allen Plattformen vertreten sein zu können. Es geht uns nicht um riesige Multimediaspektakel. Natürlich kann man die Box auch noch ausbauen und etwa mit einem Abo-System verknüpfen. Dafür gibt es momentan einfach noch keine Anbieter.

Die Berliner E-Book-Verlegerin Christiane Frohmann sagte neulich, es würden sie alle Projekte interessieren, die "im Print komplett denkunmöglich sind". Wäre das ein mögliches Fernziel für die Hanser Box?
Auch dafür schaffen wir diese Experimentiersituation. Wobei mich weniger die abgefahrene Hyperlink-Literatur interessiert. Die ersten Texte der Box sind relativ unspektakulär in ihrer Darstellungsweise. Aber wir haben zwei Vorteile: Wir können schnell reagieren, und wir öffnen einem kürzeren Format ein neues Feld.

Sie wollen die E-Books zu Preisen zwischen 1,99 und 4,99 Euro verkaufen. Machen Sie da ihren E-Books im normalen Programm preislich Konkurrenz?
Nein, es handelt sich ja um wesentlich kürzere Texte. Im Übrigen haben die sogenannten E-Shorts anderswo noch niedrigere Preise, meist nur 99 Cent. Im Vergleich dazu ist unsere Preisgestaltung relativ selbstbewusst. Trotzdem wollen wir ein niedrigschwelliges Angebot, um Kunden die Möglichkeit des Ausprobierens zu geben.

Ist die Hanser Box dann die Einstiegsdroge für Autoren und Bücher im (gedruckten) Hauptprogramm?
Ja, durchaus. Auf diese Weise kann man Autoren für sich entdecken, von denen man dann mehr lesen will. Manches im Programm hat auch den Charakter einer Fan-Begleitbox für die großen Bücher, beispielsweise von Henning Mankell.

Hanser Box ist das erste rein digitale Beiboot eines klassischen Publikumsverlags. Glauben Sie, dass dieses Beispiel Schule machen wird?
Das muss jeder Verlag für sich entscheiden. Und noch ist es ja so, dass uns das digitale Publizieren ökonomisch nicht den Riesenspaß bereitet. Wir befinden uns im Zeitalter der Entdecker, nicht der Goldgräber. Wir sind neugierig, unbekannte Küsten zu erforschen, aber nicht in dem Glauben, mit Weihrauch und Gewürzen nach Hause zu kommen.