Interview mit Suhrkamp-Lektorin Katharina Raabe

"Die fehlende Sprachkompetenz ist eine gewaltige Hürde"

17. Juni 2016
von Börsenblatt
Bei belletristischen Übersetzungen liegt Englisch als Originalsprache weit vorn. Liegt es daran, dass viele Lektoren zu wenige Sprachen beherrschen − und müssen sie das überhaupt? Ulrich Rüdenauer hat Katharina Raabe befragt, die als Lektorin viele osteuropäische Schriftsteller zu deutschsprachigen Verlagen gebracht hat, bei Arche, Rowohlt Berlin und seit 16 Jahren bei Suhrkamp.

Wie werden Sie auf interessante Autoren aufmerksam?
Vor 20 Jahren habe ich Andrzej Stasiuk bei einer Lesung in Krakau erlebt und beschlossen, mir seine Sachen näher anzusehen. Er machte mich später auf Juri Andruchowytsch aufmerksam, bei dem ich – solche Kühnheiten waren damals nur bei Suhrkamp denkbar – einen Essayband über Galizien in Auftrag gab. Der Literaturwerkstatt Berlin habe ich die Bekanntschaft mit den sehr jungen Ukrainern Ljubko Deresch und Serhij Zhadan zu verdanken. In der "Neuen Zürcher Zeitung" stieß ich auf einen Text von Katja Petrowskaja, die ich daraufhin einlud, etwas für unsere Anthologie Odessa Transfer zu schreiben. Diese Autoren setzen Maßstäbe und ziehen andere an.

Und Sie haben sicher viele Kontakte ...
Seit 1990 habe ich mich um eine systematische Erschließung der verschiedenen osteuropäischen Literaturen bemüht und mir ein Netzwerk aufgebaut, Leute, die ich befragen konnte – ältere Kollegen aus der früheren DDR, Menschen aus Ungarn, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und der Sowjetunion, die im Exil lebten, Übersetzer, Journalisten, Slawisten, Hungarologen. Lektorenkollegen in Zagreb, Prag oder Budapest, die kurz nach der Wende aus den staatlichen Verlagen rausgingen und ihre eigenen Häuser gründeten. Wichtig war auch der Kontakt mit Kollegen in Frankreich, den Niederlanden oder in Skandinavien, die sich ebenfalls um Autoren aus Mittel- und Osteuropa kümmerten. Die frühen 90er Jahre waren eine ideale Zeit, um Grundlagen zu legen.

Können Sie all die Autoren, die Sie für Verlage entdeckt haben, im Original lesen? Inwieweit sind Sie auf Übersetzer und Gutachten angewiesen?
Leider immer noch nicht. Russische Originale kann ich lesen, in den anderen Sprachen reichen die Kenntnisse nicht aus, um literarische Texte zu beurteilen. Glücklicherweise habe ich exzellente Gutachter, wir kennen einander lange und gut; dasselbe gilt für einen "Stamm" von Übersetzern aus dem Russischen, Polnischen, Ungarischen, Rumänischen, Bosnisch-Kroatisch-Serbisch-Mazedonischen und inzwischen auch aus dem Ukrainischen. Ich kenne sehr viele Autoren persönlich, frage sie aus, reise auch herum. Ohne Kenntnisse des Kontexts nützt auch ein Gutachten wenig.

Ist es notwendig, als Lektor einer Übersetzung die Originalsprache zu beherrschen – oder zumindest rudimentär zu verstehen? Oder kommt es beim Lektorat doch vornehmlich auf die Güte, Stringenz, Sprachwirkung der Übersetzung an?
Selbstverständlich sind wir Lektoren für die sprachliche Gestalt des fertigen Buchs zuständig. In der deutschsprachigen Literatur bewandert zu sein, auf ein möglichst großes Repertoire an Formen, Stil- und Tonlagen zurückgreifen zu können, ist meines Erachtes die wichtigste Voraussetzung auch im Übersetzungslektorat. Um frei und mit scharfem Ohr zu Werke zu gehen, kann es sogar – wie unser großer Lektorenkollege Helmut Frielinghaus einmal formulierte – von Vorteil sein, die Ausgangssprache nicht zu kennen. Ich selbst mache heute keine Bücher mehr, deren Original ich nicht wenigstens rudimentär nachvollziehen kann. Sie müssen den Übersetzern kompetente Fragen stellen können; eine schlechte Übersetzung lässt sich, wenn überhaupt, verantwortungsvoll nur retten, wenn Sie sich beim Original rückversichern können. In schwierigen Fällen ziehe ich auch Muttersprachler zu Rate, hole gewissermaßen eine zweite Meinung ein.

 

Auf dem deutschen Buchmarkt dominieren Übersetzungen aus dem Englischen. Woran liegt das Ihrer Ansicht nach?
Das Englische ist nun mal die einzige Sprache, die jeder Lektor zumindest liest. Ob das auch der Grund ist, warum englischsprachige Bücher den Markt beherrschen? Die Mechanismen des globalen Literaturmarkts verstärken die Dominanz des Englischen immer mehr. Der Widerstand dagegen ist gering bzw. wir haben die Strategien noch nicht gefunden, wie man dieser Übermacht begegnen kann. Inzwischen liegen die Absatzzahlen bei literarischen Titeln aus dem Italienischen und Französischen oder dem Ungarischen und Polnischen auf dem deutschsprachigen Markt etwa gleich auf.

Sollten die Verlage ein größeres Augenmerk auf kleinere oder „exotischere“ Literaturen legen? Und wie könnte das gehen, wenn in den Verlagen zumeist niemand da ist, der die entsprechenden Sprachen beherrscht?
Ich beobachte hier eine große Vielfalt im Kleinen, fast jeder Verlag macht ab und zu einen osteuropäischen Titel, besonders zahlreich kleinere und mittelgroße Häuser wie Voland & Quist, Kookbooks, Matthes & Seitz, Schöffling u.a. engagieren sich für ihre Autoren. Dennoch: die fehlende Sprachkompetenz ist eine gewaltige Hürde. Zu viele Sprachen, die man lernen muss, zu wenige Leute, die sich auskennen. Es gehört schon eine gewisse Kühnheit dazu, sich da reinzustürzen, Intuitionen zu folgen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, was gehen könnte, was nicht. Wie soll man sich mit Büchern identifizieren, die man blind akquiriert hat? Die man erst lesen kann, wenn die Übersetzung da ist? Die fehlende Nachfrage nach Büchern aus kleineren, nicht westeuropäischen Sprachen ermuntert nicht gerade dazu, die entsprechende Sprachkompetenz einzufordern. Ich rate jungen angehenden Lektoren, neben dem Russischen mindestens eine weitere osteuropäische Sprache zu erlernen. Es gibt dort einiges zu entdecken. Aber man muss auch streng auswählen können.

 

Ist es notwendig, für die Übersetzungen aus anderen Sprachen als dem Englischen Übersetzungsförderungen zu generieren? Halten Sie die Fördermöglichkeiten derzeit für ausreichend?
Von 1993 bis 2006 gab es das Übersetzungsförderungsprogramm des LCB /dem AA, der Pro Helvetia und dem Berliner Senat, das die Übersetzungen von 246 Titeln aus Mittel- und Osteuropa gefördert hat. Die Förderung musste zwischen Übersetzern und Verlagen geteilt werden. Die Einstellung dieses Programms war ein herber Schlag. Zwar halte ich nichts davon, ein Buch zu akquirieren, nur weil eine Förderung in Aussicht steht. Aber diese Unterstützung hat vieles ermöglicht, was später Früchte getragen hat und ohne sie nie begonnen worden wäre. Ich denke nicht nur an Autoren, sondern an die katastrophal unterbezahlten Übersetzer, die dank dieser Förderung bessere Honorare bekommen haben, was ihrer Professionalisierung zugute kam. Von Vilnius bis Tbilissi, von Moskau bis Bukarest gibt es nationale Stiftungen und/oder staatlich unterstützte Buchförderungsprogramme, bei denen man einen Antrag auf Übersetzungsförderung stellen kann. Das Netzwerk Traduki fördert Übersetzungen aus den südslawischen Sprachen. Auch auf EU-Ebene kann man Anträge stellen. Eine Übersetzungsförderung aus dem Ukrainischen existiert leider noch nicht, obwohl es gerade hier inzwischen eine gewisse Nachfrage gibt.

 

Was hat Sie, die Sie ja ursprünglich von der Musik kommen, an der Literatur aus Osteuropa interessiert oder gar fasziniert?
Osteuropa war Zufall. Ich hatte Geschmack am Büchermachen gefunden, mich bei Arche mit Gertrude Stein und Ezra Pound und von ihnen ausgehend mit den europäischen Vorkriegsavantgarden beschäftigt. Die Frage drängte sich auf, ob es nicht neben Paris, London, Berlin, Wien auch Zentren in Mittelosteuropa gegeben hatte, in denen diese Generation ähnliche Dinge ausprobierte. Aus purer Neugier stieß ich auf die großartigen Anthologien von Reclam Leipzig, in denen ich die serbischen Zenitisten und Dadaisten, den ungarischen Nyugat, die rumänische, tschechische, polnische Avantgarde entdeckte, später kamen dank Peter Urban die OBERIUTEN dazu und irgendwann dann die Kinder und Enkel dieser literarischen Moderne wie Bora Ćosić, dessen lustiger Roman „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“ ich auf diesem Wege gefunden habe. Der Mauerfall, die Gründung von Rowohlt.Berlin, die Lektüre von Imre Kertész‘ „Kaddisch für ein nichtgeborenes Kind“ und dem „Buch der Erinnerung“ von Péter Nádas – all das ist schuld daran, dass mich die Suche nach Literatur aus dieser Weltgegend nicht mehr losgelassen hat. Dafür habe ich sogar die Geige an den Nagel gehängt.