"Ich erlaube mir, die Frage hinzuzufügen, ob Bücher das überhaupt tun. In den letzten Wochen habe ich einige selbstbewusste Behauptungen gehört, die ich hier zitieren möchte. Beispielsweise hat der Vorsteher des Börsenvereins Heinrich Riethmüller, der selbst Buchhändler ist, den Satz gesagt: 'Bücher sind Integrationsbeschleuniger.' Wie beurteilen Sie das aus Sicht einer Autorin, einer Verlegerin und einer Buchhändlerin und Vermittlerin?", fragte Casimir die Podiumsteilnehmer.
Anna Xiulan Zeeck promovierte an der Universität Oldenburg im Fach Politische Soziologie und leitet seit 2006 den von ihr gegründeten Verlag Desina. Sie bejahte grundsätzlich. "Bücher können Brücken zu fremden Ländern bauen und Verständnis wecken und Sympathien für Menschen aus anderen Kulturen erzeugen." Andrea Karimé arbeitete zwölf Jahre als Grundschullehrerin und lebt seit 2006 als freie Schriftstellerin in Köln. Ihr Buch "Tee mit Onkel Mustafa" (Picus) wurde mit dem Österreichischen Kinderbuchpreis ausgezeichnet. "Ich bin sicher, dass Bücher helfen können, Empathie zu entwickeln und zu fördern. Wichtig ist, dass die Autoren an glaubwürdigen Figuren arbeiten und Projekte verfolgen, die eine Notwendigkeit haben, bestimmte Inhalte zu entwickeln und zu verarbeiten. So können Kinder lernen, sich in Geschichten hineinzuversetzen, ohne dass sie von vornherein gedrängt werden, gewisse Wertentscheidungen zu treffen."
Mariela Nagle arbeitete nach dem Studium der Literaturwissenschaft bei einer Vereinigung zur Unterstützung von politischen Flüchtlingen in Italien und organisiert in Berlin Projekte der kulturellen Bildung für Kinder und Erwachsene. 2007 gründete sie in Berlin die Buchhandlung mundo azul, deren Schwerpunkt auf internationalen Kinderbüchern liegt. "Ich sehe meine Buchhandlung als Labor, in dem Kinderbücher aus aller Welt interpretiert und beurteilt werden. Wir haben beispielsweise ein neues bilinguales Buch Deutsch-Arabisch gemeinsam analysiert und uns gefragt, ob es richtig ist, eine Geschichte von Flüchtlingskindern zweisprachig zu erzählen, die gerade in Deutschland angekommen sind. Viele Kinder, deutsche und ausländische haben mitgemacht und auch Ärzte, die sich um Flüchtlingskinder kümmern. Als Team kamen wir zum Ergebnis, dass solche Bücher grundsätzlich zu begrüßen sind, dass wir aber rasch weiterkommen und viele Probleme beheben müssen. Dieses Buch kann man nur von rechts nach links blättern. Wo bleibt da die Bilingualität? Eine deutsche Autorin beschreibt hier Elend, Vertreibung und Flucht in arabischen Ländern. Wir hatten Zweifel an der Glaubwürdigkeit. Und was passiert bei den Kindern? Mitleid? Schuldgefühle? Solche Themen sind oft in Sachbüchern besser aufgehoben. Und man sollte sich gut überlegen, wann man Unterschiede und wann und wie man Gemeinsamkeiten betont."
Torsten Casimir erinnerte an den "Struwwelpeter" und "Die Geschichte von den schwarzen Buben": "Die Idee ist hier, dass die Jungen, die den Mohr verspotten, zur Toleranz erzogen werden. 'Und hätten sie nicht so gelacht, hätt' Niklas sie nicht schwarz gemacht', heißt es am Ende. Aber der interkulturelle Befehl geht schief. Die gute Absicht ist da, aber am Ende funktioniert es nicht. Was muss in den Verlagen diskutiert werden, damit das besser gemacht wird?" Anna Xiulan Zeeck veröffentlicht vorwiegend Bücher, die das Leben von Kindern und Jugendlichen in China so darstellen, dass sie die Leser hier ansprechen. "Das erfordert großen Anstrengungen. Wir stehen in ständigem Kontakt mit Autoren in China", so Zeeck. Daran schloss sich ein Gespräch über den Lizenzmarkt an und über die Klagen deutscher Verleger, sie hätten so viele wunderbare Bücher aus fremden Ländern entdeckt, die aber leider in Deutschland nicht funktionieren würden. Mariela Nagle verwies darauf, dass sich der der deutsche Buchmarkt in den letzten zwanzig Jahren schon stark geöffnet habe für die Akquise fremder Stoffe und nannte als Beispiele den Gestalten Verlag und Bohem Press. "Das Problem ist weniger die interkulturelle Kompatibilität, eher die Verbreitung solcher Bücher. Sortimenter und Leser müssen sensibilisiert werden. Frankreich ist hier viel weiter", so Nagle.
Einig waren sich die Podiumsteilnehmer, dass bei der Vertriebsarbeit noch viel zu tun ist, dass Bücher dorthin gebracht werden müssen, wo Integrationsarbeit geleistet wird. "Bücher als Integrationshelfer müssen verstärkt auch in weißen deutschen Gegenden verbreitet werden", so Karimé. Multikulti-Kindergärten seien oft schon gut ausgestattet. Bei der künftigen Ausrichtung der Verlage vor dem Hintergrund eines großen neuen Lesermarktes teilten sich die Meinungen. Casimir wies auf die sechsstellige Zahl von Flüchtlingskindern, auf diese vielen potentiellen Leser von morgen: "Welche Konzepte gibt es hier, damit geeignete Bilder-, Kinder- und Jugendbücher die neuen Leser erreichen?", fragte Casimir. Karimé erwartet eine verstärkte Förderung von Autoren mit bikultureller Erfahrung. Nagle und Zeeck fordern einen konstanten Blick über den Tellerrand: "Was passiert in anderen Ländern? Wir sollten die guten Beispiele übernehmen, denn die neuen Leser kommen mit einer ganz anderen Mentalität zu uns. Manche Kinder haben eine große Wertschätzung für Bücher, die nicht selten viel größer ist als die der deutschen Kinder", so Nagle. Karimé lehnt aber die aktive Gestaltung und Eroberung eines neuen Marktes in diesem Zusammenhang ab: "Es wäre das falsche Signal, hier ein neues Segment zu eröffnen. Es gibt schon genügend gute Literatur." Nagle nannte als positives Beispiel das bereits 2010 in Australien erschienene Bilderbuch "Mirror" von Jeannie Baker. Das Buch kommt fast gänzlich ohne Text aus und bringt auf besondere Weise die arabische der westlichen Welt näher. "Leider hat sich bis heute dafür kein deutscher Verlag gefunden. Die Kinder- und Jugendliteratur muss universeller werden", so Nagle.
Eingeladen hatten der Arbeitskreis für Jugendliteratur AKJ, die Stiftung Lesen, der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen avj und der Börsenverein.
1. Es wird behauptet, dass die Bilingualität des Buches nicht viel wert sei, weil die Blätterrichtung von vorne nach hinten läuft. Dazu kann ich nur sagen, dass es den vielen arabischlesenden Lesern bislang keine Mühe gemacht hat, es auf diese Weise zu lesen. Laut unserem Übersetzer, der auch Sprachwissenschaftler ist, sind die Leser aus der arabischen Welt sehr geübt darin, beide Leserichtungen zu praktizieren. Da das Buch auch Bilder enthält, mussten wir uns nun mal für eine Leserichtung entscheiden. Und da unser Buch in Deutschland erscheint und sowohl viele deutsche als auch viele Kinder aus anderen Ländern erreicht, haben wir uns für die hier übliche Richtung entschieden. Die Bilingualität wird dadurch in keiner Weise beeinträchtigt. Vor allem auch der Sprachführer im Anhang wird von vielen Willkommensklassen begeistert aufgenommen.
2. Frau Nagle sagte in der Diskussion, dass in diesem Buch eine deutsche Autorin Elend, Flucht und Vertreibung in arabischen Ländern beschreibt und dass man (daher?) Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Textes habe. Abgesehen davon, dass in dem Buch gar nicht von Elend und Vertreibung und arabischen Ländern die Rede ist, sondern von einer konkreten Familie, die sich zur Flucht aus Homs in Syrien entscheidet, wüsste ich gerne folgendes: Was hat die Nationalität der Autorin mit der Qualität des Textes zu tun? Darf eine deutsche Autorin nicht über die Geschichte syrischer Kinder schreiben? Denn dies wird mit der Verbindung „Deutsche Autorin – Glaubwürdigkeit des Textes“ insinuiert. Wenn Frau Nagle und ihr Analyseteam Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Textes haben, haben sie dann versucht, diese Zweifel auszuräumen oder zu untermauern, bevor sie sie in einer öffentlichen Diskussion behaupten? Weder bei Kirsten Boie noch bei uns im Verlag gab es meines Wissens diesbezügliche Nachfragen. Auch der Autor des Artikels hat nicht bei uns nachgefragt, bevor er diesen starken Vorwurf im Bericht zitierte.
Daher frage ich jetzt: Welche konkreten Zweifel bestehen an der Glaubwürdigkeit der Autorin und worauf stützen sie sich?