Lesetipps der Redaktion

Highlights im Herbst

17. Juni 2016
von Börsenblatt
Die Börsenblatt-Redaktion hat die Vorschauen durchforstet und besondere Titel herausgepickt – vom Netzroman bis zu Erzählungen über die wilden Zwanziger.

Mit dem iPhone verwachsen
Alarmierende Analyse und literarischer Höllenritt: Warum geben wir unsere Daten her? Eine Comiczeichnerin und eine Studentin spüren die Macht der digitalen Gegenwart, die eine hat nach einer unbedachten Äußerung einen Shitstorm am Hals, die andere findet sich nackt im Netz wieder. Kobek hält uns in der Suada über Macht und Moral in der globalisierten Welt den Spiegel vor.

Jarett Kobek: "Ich hasse dieses Internet."  /  S. Fischer  /  Oktober  /  336 S.  /  20 €

Kampf der Geschlechter
In Denvers dunkelsten Ecken wartet sie, gekleidet wie eine Prostituierte, bis ein Mann sie unsittlich zu berühren versucht. Dann reißt sie ihn zu Boden, nimmt ihm Brieftasche und Würde, flieht. Nina Black ist eine Streetfighterin. Doch dann gerät sie an einen Mann, der sich nicht so einfach abschütteln lässt. Krouses Roman entwickelt sich von einer derben Geschichte über den Kampf um des Kampfes Willen zu einer überaus amüsanten romantischen Komödie.

Erika Krouse: "Fight Girl"  /  Blumenbar  /  August  /  304 S.  /  20 €

Absurde Anklagen
Mit bizarren Vorschriften verhindern die religiösen Wächter jegliches normales menschliches Miteinander. Die rebellische Bilqiss begehrt dagegen auf und entlarvt während ihres Prozesses mit luzider Dialektik die Absurdität der Eiferer. In Zwiegesprächen mit dem emotional aufgewühlten Richter, der die Steinigung hinauszuzögern versucht, lotet sie Gründe und Abgründe aus. Aus unterschiedlichsten Perspektiven beschreibt Saphia Azzeddine schonungslos und erschreckend den Wandel einer fundamentalistisch-bigotten Gesellschaft. Ein kühner Wurf, ein großes Stück Literatur über ein hochaktuelles Thema.

Saphia Azzeddine: "Bilqiss"  /  Wagenbach  /  August  /  176 S.  /  20 €

Panzer und Ulysses
Hipstertum und der Irakkrieg, Liebe, Freundschaft und das Leben in den USA im Jahr 2003, als noch Myspace und Counterstrike statt Smartphones und Facebook angesagt waren: Als der Soldat Montauk nach Bagdad muss und Corderoy sich für das Studium der Literaturwissenschaften in Boston einschreibt, sind die Tage ihrer Mottopartys in Seattle gezählt. Auf einer eigenen Wikipedia-Seite bleiben sie in Kontakt. Durch starke Figuren und sprühende Dialoge erfährt man hier viel über eine Zeit im Umbruch, aber auch über die Autoren: Kovite hat selbst in der Armee gedient, Robinson Literatur studiert.

Gavin Ford Kovite, Christopher Gerald Robinson: "Der Krieg der Enzyklopädisten"  /  Berlin Verlag  /  September  /  608 S.  /  24 €

Familiengeschichte
Es sind die Sprachmelodien, mit denen Kuhn den Leser fesselt und hineinzieht in eine berührende Geschichte: Holli holt seine dement werdende Großmutter aus dem Heim und besucht mit ihr im Transporter Stationen ihres Lebens, die auch die deutsche Vergangenheit widerspiegeln. Fasziniert folgt man Omis mährischen Sprachklängen, der Familiengeschichte und einer engen Beziehung.

Helmut Kuhn: "Omi"  /  FVA  /  August  /  256 S.  /  21 €

Weimaraner Abenteuer
Goethe, der Klopstock-Kreis, Lenz, die Stein, Corona Schröter – sie alle werden in diesem beredt-geheimnisvollen Roman lebendig und mit Figuren aus dem "Volk" zu einem Gemälde jener Zeit verwoben. Gut zehn Tage ist Goethe inkognito unterwegs, um den Brocken zu besteigen, erlebt Abenteuer, reflektiert. Und der Leser geht mit ihm auf eine Zeitreise.

Christian Schärf: "Die Reise des Zeichners"  /  Eichborn  /  September  /  300 S.  /  22 €

Serenissima in Flammen
Nach einer Detonation in Venedig wird ein konvertierter Jude schnell als Verursacher beschuldigt – zu Unrecht. Er flieht und trifft in Istanbul auf Joseph Nasi, der von einer Heimatstätte für verfolgte Juden träumt. Ein Cliffhanger folgt bei diesem historischen Thriller auf den nächsten. Das Autoren­kollektiv Wu Ming hat damit einen echten Pageturner vorgelegt – noch dazu mit imposantem Ambiente.

Wu Ming: "Altai"  /  Assoziation A  /  August  /  360 S.  /  24 €

Familiensaga
Das dicke Kind, auf das der Titel anspielt, ist die Autorin selbst. Sie schildert das entbehrungsreiche Leben ihrer Bauernfamilie im Piemont, blickt dabei bis ins ins 19. Jahrhundert zurück. Der Zweite Weltkrieg, der Aufschwung der 50er Jahre und die Emanzipation sind große Themen. Ihren Tanten, Großtanten und der verstorbenen Mutter setzt sie in schnörkelloser Sprache ein Denkmal. Frauen, die ihr Leben bis heute prägen – neben dem Vater, der mit seiner Spielsucht die Familie fast ruinierte.

Margherita Giacobino: "Familienbild mit dickem Kind"  /  Kunstmann  /  320 S.  /  22 €

Aufregende Rückblende
In elf detailreichen Erzählungen entfaltet sich der Glanz der "Roaring Twenties": Die selbst­bewussten Protagonistinnen werfen sich in das schillernde Treiben der Zwanziger Jahre und erobern sich ihren Platz in der Gesellschaft und auf der großen Leinwand, während sie elegant mit Konventionen brechen.

Zelda Fitzgerald: "Himbeeren mit Sahne im Ritz"  /  Manesse  /  September  /  250 S.  /  24,95 €

Sprechende Erde
Ein Frühjahrstitel sei doch noch genannt: In »Drach« wird die Erde zur Erzählerin – ein Kunstgriff, den Autor Szczepan Twardoch in ähnlicher Form in seinem furiosen Debüt "Morphin" erprobt hat. Stakkatohaft montiert er die Schicksale von vier Generationen einer schlesischen Familie ineinander, zeigt Werden und Vergehen; am Ende frisst der grausame Weltendrache alle seine Kinder. Ein gewaltiger Roman, ein rasendes Plädoyer gegen die Sinnlosigkeit des Krieges.

Szczepan Twardoch: "Drach"  /  Rowohlt Berlin  /  416 S.  /  22,95 €

Erinnerungslücken
Als Albino ist sie eine Außen­seiterin in der schwarzen Gemeinschaft: Seit zwei Jahren sitzt Memory als Todeskandidatin im Frauentrakt des berüchtigten Gefängnisses Chikurubi in Simbabwe – sie soll ihren weißen Ziehvater ermordet haben. Memory glaubt, dass er sie als Kind gekauft hat. Für eine US-Reporterin schreibt sie ihr Leben auf. Ein packender Roman über ein Land zwischen Tradition und Moderne, Township und Villenviertel. 

Petina Gappah: "Die Farben des Nachtfalters"  /  Arche  /  August  /  348 S.  /  22 €

Kriegsschäden
1920 trifft der junge Restaurator Tom Birkin, sichtlich vom Ersten Weltkrieg gezeichnet, im nordenglischen Oxgodby ein –  um in der Dorfkirche ein Fresko freizulegen. Ein Meisterwerk, wie sich herausstellt. Die Arbeit und die freundlichen Dörfler lassen seine Seele genesen. Das alles lässt Carr seinen Ich-Erzähler Tom 58 Jahre später niederschreiben – eine wehmütige, aber nie sentimentale Erinnerung an die Jugend. Und an einen Moment, der seinen weiteren Weg bestimmte. Nostalgie pur.

J. L. Carr: "Ein Monat auf dem Land"  /  Dumont  /  Juli  /  160 S.  /  18 €