Literatur trifft Politik

"Twittern ist wie Nägelkauen"

23. Juli 2015
von Holger Heimann
Literatur trifft Politik – unter diesem Motto hatte der Börsenverein am Mittwochabend in sein Berliner Büro am Schiffbauerdamm eingeladen. Nicht branchenpolitische Themen, wie Urheberrecht oder Preisbindung, sollten diskutiert werden, vielmehr hatte man Größeres und zugleich Flüchtigeres auf die Agenda gesetzt: die Zeit.

Landauf landab hört man das Klagen über die Diktatur der Uhr, über die wachsende Schwierigkeit, den Anforderungen der Arbeitswelt gerecht zu werden und zugleich das Familienglück nicht aufs Spiel zu setzen. Neue Kommunikationstechniken machen vieles leichter, aber sie nehmen uns auch in Anspruch. Wie ist es also bestellt mit unserem Zeitbudget? Was bedeutet die allseits monierte Zeitknappheit für das Zusammenleben?

Von einer totalen Verfallenheit an das eigene E-Mail-Postfach, an Facebook und Twitter erzählt die junge "Zeit"-Redakteurin Nina Pauer in ihrem Buch "LG ;-) Wie wir vor lauter Kommunizieren unser Leben verpassen". Der Titel lässt nicht mehr viele Fragen offen (außer der Kleinigkeit, dass LG für "Liebe Grüße" steht). Und als unentrinnbar beschreibt Pauer recht eindimensional auch die Technik als Zwangsjacke für ihre Generation. "Wir werden senden bis zum kollektiven Kollaps", las sie apokalyptisch drohend aus ihrem bei S. Fischer herausgekommenen Titel vor.

Spannend anzusehen war der Film von Florian Opitz "Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" (das gleichnamige Buch ist bei Goldmann erschienen). Opitz hat sich in der Londoner Finanzwelt umgeschaut, mit Arbeitsjunkies und Aussteigern gesprochen und bei Wissenschaftlern nachgefragt. Und er hat sich selbst beobachtet, dem eigenen Leben nachgespürt. Er habe keine "Take-home-message" liefern wollen, sagte Opitz im Gespräch mit Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir, der unterhaltsam durch den Abend führte. Für sich selbst hat Opitz aber doch eine Botschaft mitgenommen: "Man kann nur ein Leben leben und nicht zwei oder drei Leben in eines packen."

Notwendig ist es mithin, Entscheidungen zu treffen. Jene, denen dies gelungen ist, erschienen Opitz bei seinen Recherchen als die glücklicheren Menschen. Doch Opitz weiß auch: "Wir können aussteigen, in die Alpen gehen und Käse machen. Aber nicht alle." Wir anderen unterliegen nach dem Befund des Soziologen Hartmut Rosa einer eisernen "Logik der Konkurrenz", die zu immer größerer Beschleunigung antreibt. Das Tempo  bestimmt jedoch nicht länger der Mensch, sondern die Technik. "Wir sind längst auf Autopilot" – so das düstere Fazit des Films.

Ganz so finster ist es im deutschen Parlament noch nicht, von einer gigantischen Überforderung  wusste aber auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow zu erzählen: immer komplexere Sachverhalte, jedoch immer weniger Zeit und Ressourcen – diese ungute Mischung sorge vielfach für ein gefährliches Halbwissen: "Ich fühle mich häufiger nicht in der Lage, Gesetze zu überblicken", räumte Bülow offenherzig ein.

Über Gefahren, die aus solcher Unübersichtlichkeit für unsere Demokratie resultieren, wurde nicht disputiert – vermutlich aus Zeitgründen. Stattdessen gelang es Sten Nadolny, der mit seinem Anfang der 80er Jahre erschienenen Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit" berühmt geworden ist, dem Abend etwas von allzu großer Schwere und Betrübnis zu nehmen. "Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ganz ernst", widersprach der Schriftsteller mit erfrischender Lässigkeit den diversen Schreckensszenarien. "Twittern ist eine schlechte Angewohnheit wie Nägelkauen" – noch ein Merksatz. "Man muss es nicht wirklich, man macht es auch ganz gern." Das Jammern über die Zeitknappheit ist so gesehen "viel Theater", und neu ist es für Nadolny auch nicht: "Wenn ich einen Roman schreibe, dann beklage ich mich auch darüber, zu wenig Zeit für anderes zu haben. Aber ich will es so."

Das Publikum, vor allem Bundestagsabgeordnete und deren Mitarbeiter, ließ sich mehrheitlich ohnehin nicht über Gebühr erschüttern. Rege wurden während der Diskussion Smartphone-Tastaturen bedient – vielleicht, um ein Resümee des Abends ohne Verzug in die Welt hinaus zu twittern.