Podium zur Lage der Meinungsfreiheit

"Erdogan will gar nicht nach Europa"

22. Oktober 2016
von Börsenblatt
Mit dem dringlichen Vorschlag "Lauter werden!" war ein Podium auf der Frankfurter Buchmesse betitelt, das die Situation der Meinungs- und Äußerungsfreiheit insbesondere in der Türkei diskutierte. Rasch wurde klar: Dieser Titel passte.

Was Zeynep Oral, die türkische Aktivistin, Autorin und nationale PEN-Präsidentin, eingangs der Veranstaltung über die aktuelle Situation in ihrem Land berichtete, klang eher nach Diktatur als nach einem EU-Beitrittskandidaten: Mehr als 32.000 Menschen seien nach dem vereitelten Militärputschversuch Mitte Juli von der Regierung Erdogan verhaftet worden, darunter Journalisten und Schriftsteller. 45 Zeitungen, so Oral, seien geschlossen worden, 18 TV-Stationen dichtgemacht, 23 Radiostationen der Stecker zogen, 29 Verlagshäuser mit Publikationsverbot belegt. Demokratisch gewählte Bürgermeister seien aus ihrem Amt gejagt und durch Regierungsvertreter des "Autokraten Erdogan" ersetzt worden.

Der Schriftsteller Moritz Rinke, dessen Ehefrau Türkin ist und der die Nacht des Putschversuchs bei den Schwiegereltern in Antalya erlebte, bestätigte das düstere Bild. "Die Nachricht vom versuchten Putsch erzeugte bei meiner Frau und ihrer Schwester eine helle Freude", berichtete Rinke. Um zu folgern: "Wenn zwei junge, demokratisch gesinnte Frauen sich über einen Militärputsch in dieser Weise freuen, zeigt das nur, wie enorm groß die Unzufriedenheit mit dem System Erdogan bereits sein musste." Sie sei in den drei Monaten danach noch größer geworden.

Rinkes Analyse zu Erdogans politischen Zielen klang tief pessimistisch. Der türkische Präsident wolle "gar nicht mehr nach Europa", sagte der Schriftsteller. Erdogan sei "ein Autokrat, der sich in Europa als ein Neuling, der er dann wäre, niemals hinten anstellen würde“. Dieser Präsident habe vielmehr "eine Lust daran, Europa vorzuführen". Die Türkei bezeichnete Rinke als "Weltmeister im Erfinden von Feindbildern. Wenn Shakespeare noch leben würde", so die Zuspitzung Rinkes, "müsste er 'Richard III.' jetzt überarbeiten – weil es Erdogan gibt.“ Europa habe die Türkei bereits verloren.

Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins und Initiator der resonanzstarken Kampagne "#FreeWordsTurkey", unterstrich Rinkes alarmierende Befunde. Erdogan versuche, "mit seiner Art, westliche Politiker vorzuführen, der Türkei einen gewissen nationalen Stolz zurückzugeben“. Das sei das eigentlich Perfide an dem Agieren des Autokraten. In deutlichen Worten wandte sich Skipis abermals gegen die "Appeasement-Politik" deutscher und europäischer Politiker in Bezug auf die Türkei. Beschwichtigung sei der falsche Weg, weil sie "totalitäre Systeme" und ihre Machthaber "nur stärkt und die Opposition in diesen Ländern entsprechend schwächt".

Skipis wiederholte seinen Appell an die Bundeskanzlerin und die EU-Verantwortlichen, dass nur mit einer Politik der klaren Worte und Handlungen einer wie Erdogan gestoppt werden könne. Dies sei, wie eine Forsa-Umfrage im Auftrag des Börsenvereins ergeben habe, auch die mehrheitliche Erwartung der deutschen Bevölkerung an die Politik in Berlin und Brüssel – selbst dann, wenn eine solche klare Haltung kurzfristig Nachteile mit sich bringen würde. Die gegenwärtige Lage in der Türkei bezeichnete Skipis als "hoffnungslos. Es gibt keine Lösung mit Erdogan."

Mit Hoffnungslosigkeit mochte sich der Vierte in der Podiumsrunde, der Hoffmann-und-Campe-Verleger Daniel Kampa, allerdings nicht abfinden. Kampa, in dessen Verlag das neue Buch von Can Dündar "Lebenslang für die Wahrheit" erschienen ist, schlug vielmehr vor, diesen türkischen Journalisten zum Vorbild für einen Widerstand zu nehmen, dem die Hoffnung nicht ausgeht.

Dündar, der seinen Job als Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet" verlor, der in U-Haft saß (wo das Buch entstand), sein Land mittlerweile verlassen musste und heute im Berliner Exil lebt, sei "ein unglaublicher Kämpfer", und das, obwohl Erdogans Leute Dündars Frau den Pass abgenommen hätten, so dass sie quasi als Geisel der Türkei das Land derzeit nicht verlassen könne. "Wenn Dündar noch Hoffnung hat, dann sollten auch wir weiterhin alles versuchen", schloss Kampa.

cas