Podiumsdiskussion zur Leseförderung

Loblied auf den Vorlesewettbewerb

18. März 2016
von Börsenblatt
Über den Wert des Vorlesens - und des Vorlesewettbewerbs - diskutierten am Donnerstag in Leipzig die Autorin Nora Gomringer, Leonie Reinhardt, Siegerin des Vorlesewettbewerbs, und die Hörbuchverlegerin Angelika Schaak.

Beim Vorlesewettbewerb des Börsenvereins sind kleine Leseratten die Stars. Die elfjährige Leonie Reinhardt aus Gotha konnte 2015 das Bundesfinale des Vorlesewettbewerbs für sich entscheiden: "Ich lese am liebsten Dialoge vor: Je lustiger, desto besser. Traurige Texte können auch schön sein. Ich bringe das Publikum aber lieber zum Lachen als zum Weinen."

Angelika Schaak, gelernte Regisseurin, gründete mit Andrea Herzog die Hörcompany, rief den Kinderhörbuchpreis BEO ins Leben und ist seit drei Jahren Jurysprecherin des Vorlesewettbewerbs. Sie wies vor allem in letzterer Funktion darauf hin, dass beim Vorlesewettbewerb witzige Passagen und pointierte Dialoge tatsächlich meistens sehr gut geeignet sind. Nachdenkliche Prosa könne auch sehr überzeugend vorgelesen werden, vielleicht auch letztlich die Hörer stärker beschäftigen, aber sie bräuchten meistens mehr Raum und mehr Zeit, um entsprechend zu wirken. Auf der Suche nach den besten Vorlesern gelte es immer auch nach der Eignung bestimmter Schülerstimmen für bestimmte Texte zu achten. 

Die Moderatorin Birte Hansen-Kohlmorgen, Leiterin der Abteilung Literatur- und Leseförderung beim Börsenverein, fragte nach dem Verhältnis zwischen lebendiger Vortragsweise und Theatralik. "Weniger ist oft mehr. Im Idealfall verschwindet der Sprecher im Hintergrund und die Hörer sehen nur noch die Bilder der Geschichte vor sich und versinken darin. Das allzu Lebhafte kippt rasch in Aufdringlichkeit", sagte Schaak. "Einem Schauspieler helfen auf der Bühne Mimik und Gestik. Dem Vorleser bei den Aufnahmen zu einem Hörbuch steht nur die Stimme zur Verfügung. Schauspieler sind manchmal überrascht, wenn sie zum ersten Mal im Tonstudio mit dieser Situation konfrontiert sind", so Schaak. Leonie lachte und konnte das gut verstehen: "Am Anfang habe ich übertrieben, habe total Show gemacht. In meiner Klasse kam das noch gut an. Erst später habe ich gelernt, allein mit der Stimme die Zuschauer in den Bann zu ziehen und nicht mehr so mit den Armen wedeln. Bis zum Bundessieg habe ich mich immer mehr daran gewöhnt, so vorzulesen, dass auch ohne Theatralik das Publikum gerne zuhört." Dieses Jahr wird Leonie selbst zur Jury gehören. "Ich werde darauf achten, ob man sich in den Text einfühlt, ob man Herzblut reinsteckt."

Nora Gomringer, Leiterin des internationalen Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg und Gewinnerin des Ingeborg Bachmann Preises 2015 differenzierte: "Eine Lesung, auch die für ein Hörbuch, erfolgt nie im leeren Raum, nie im Unsichtbaren. Zumindest ein Tontechniker wird dabei sein. Es ist immer sehr viel Mimik bei den Vorlesern mit im Spiel, auch wenn das Publikum im Studio abwesend ist. Ob und wie viel Gestik sinnvoll ist, hängt immer auch vom Text ab. Gerade Lyrik erfordert sehr viel mehr Mimik als Prosa, denn Gedichte sind oft schwer zu verstehen, vor allem, wenn man sie nur hört. Ich arbeite seit vielen Jahren mit einer gewissen Theatralik. Wenn man ein Gedicht nicht unterstützt, dann kommt das schlecht. Bei Prosa ist es meistens einfacher. Eine Lesung ist inszenierte Sprache. Ich bin gegen Pathos, aber dramatisches Spiel sollte man mit hineinbringen."

Hansen-Kohlmorgen verwies darauf, dass Gomringers Gedichtbände immer mit beigelegter Hör-CD erscheinen und erinnerte an die Kritik in Klagenfurt, Gomringers Text überzeuge nur gesprochen. "Ich habe den Text für den Bachmann-Wettbewerb der Jury als Audiodatei geschickt. Ich dachte, so werden die Menschen beim Wettbewerb den Text ja auch zum ersten Mal mitbekommen. Der Bachmann-Wettbewerb ist ja ein Vorlesewettbewerb. Und dann heißt es, die Gomringer schreibt so, dass es die Gomringer-Stimme braucht, um den Text zu würdigen. Ich finde, ein Text muss auch immer als zu hörender Text funktionieren. Mir ist es wichtig, was das Publikum denkt." Gomringer verwies auf Hitlers "Mein Kampf" von Qualtinger gelesen. "Welch gewaltige Stimme, und trotzdem überhöht sie den Text nicht. Das ist eine extreme Leistung, die noch heute überzeugt." 

Angelika Schaak erinnerte daran, dass sich nicht jeder Text vertonen lässt: Bilderbuchtexte, die von den Illustrationen abhängig sind oder Prosatexte, die so intim sind, dass man sie selber im Stillen lesen muss. Das war das Stichwort für Gomringer: "Jeder Vorleser hat grundsätzlich immer zwei Stimmen, die innere, die sich beim stillen Lesen einstellt und die äußere, die man beim lauten Lesen hört. Das ist eine Art "Voice Box", die wichtig ist und auch gepflegt werden will. Im Alter droht sie zu verkümmern. Wir führen einen sehr wertvollen Klangappart mit uns. Orangensaft und Milch vor einer Lesung können sich schlimm auswirken." Über die Farben der Sprecherstimmen wurde freudig debattiert. Schaak wies darauf hin, dass sich durch das Hören eine gewisse Ästhetik ausbildet. Gomringer erwiderte darauf stimmgewaltig: "Welche Höhen kann man mit der eigenen Stimme erreichen? Welchen Druck kann man in die Stimme packen?" Gomringer, die zur klassischen Sängerin ausgebildet wurde, bereicherte die Podiumsdiskussion an passenden Stellen mit besonderer Intonation ihrer Kommentare.