Podiumsrunde auf der Frankfurter Buchmesse

Warum Willkommenskultur einen langen Atem braucht

14. Oktober 2015
von Sabine Cronau
12.000 Euro hat die Buchbranche bislang für die Flüchtlingsaktion "Bücher sagen Willkommen" gesammelt, die ersten Leseecken wurden damit schon ausgestattet. Aber: Sind Bücher überhaupt das, was die Flüchtlinge jetzt brauchen? Über "Willkommenskultur in Deutschland: Wie wichtig ist Bildung?" wurde am Mittwoch auf der Buchmesse diskutiert.

Dass das Thema den Nerv der Zeit trifft, zeigten die vollbesetzten Plätze im "Kulturstadion", das die LitCam in Halle 3.1 aufgebaut hat. Schließlich erhofft sich derzeit jeder Antworten auf die Frage, wie Integration angesichts des nicht abreißenden Flüchtlingsstroms gelingen kann.

Auf dem Podium gab es dabei klare, auch überraschende Worte: Die Erfahrungen der vergangenen 50 Jahre hätten gezeigt, dass Bildung nicht unbedingt am Anfang der Integration stehe, machte Wassilios Fthenakis, Professor für Entwicklungspsychologie und Präsident des Didacta Verbands deutlich. Wichtiger sei zunächst die soziale und kulturelle Einbettung. Anders ausgedrückt: Ein Flüchtlingskind, das nach Frankfurt kommt, muss erst einmal lernen, wo der Spielplatz, wo die Bücherei ist, wie man Bus fährt. Soziale Orientierung im System macht es leichter, sich einzuleben. Und der Deutschunterricht kann dann an die Alltagserfahrungen beim Ticketkauf oder der Buchausleihe anknüpfen.

Kurzum, es geht um das, was sich auch die LitCam auf die Fahnen geschrieben hat: "Competence for life" - zu der, natürlich, die Lesefähigkeit dazugehört. Dass sie eine wesentliche Voraussetzung für Teilhabe und Demokratie ist, daran ließ Buchmesse-Direktor Juergen Boos in der Gesprächsrunde keinen Zweifel. Die LitCam, eine gemeinnützige Buchmesse-Tochter, engagiert sich deshalb seit Jahren für Leseförderung und Alphabetisierung, beispielsweise mit dem Projekt "Fußball trifft Kultur".

Die aktuelle Spendenaktion "Bücher sagen Willkommen", vom Börsenverein, von der LitCam und der Frankfurter Buchmesse im Verbund getragen, werde von Buchhandlungen und Verlagen begeistert aufgenommen: Das berichtete Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins. "Schließlich treibt uns alle an, dass es eine freie Gesellschaft ohne das Buch nicht geben kann."

Mit dem Geld sind bereits Lese- und Lernecken in mehreren Flüchtlingseinrichtungen entstanden. "Fest steht: Diese Art des Willkommens ist kein Saisongeschäft, sondern wir werden mit unserer Initiative einen langen Atem brauchen", sagte Skipis - "aber wir möchten auf diesem Weg mit unseren Mitteln einen kleinen Beitrag zur Willkommenskultur leisten".

Auf dem Podium wurde deutlich, dass Deutschland beim Thema Integration in der Vergangenheit Fehler gemacht hat. "Dafür haben wir jetzt die Möglichkeit, aus den Erfahrungen zu lernen und alles richtig zu machen", so Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland. Den Muslimen, die seit Jahren in Deutschland leben, komme dabei die Rolle der Integrationslotsen und Brückenbauer zu.

Viele Chancen sieht auch Fthenakis, der die LitCam bei der Titelauswahl für die Leseecken berät: "Die Voraussetzungen dafür, dass Integration gelingen kann, sind ungleich besser als früher." Viele Flüchtlinge, die derzeit nach Deutschland kommen würden, seien gebildet, die Bürger bereit dazu, ihnen zu helfen. Eine neue Dynamik entstehe in der Gesellschaft: "Das ist wie die Hefe im Teig: Alles strebt nach oben - dadurch gerät das ganze System in Bewegung." Jetzt gehe es vor allem darum, zu vermitteln, dass kulturelle Differenzen ein Reichtum sind - und darum, den Zugang zur neuen Sprache zu ermöglichen, nicht zuletzt durch Bücher.

Also alles gut? Nicht nur. Mazyek kritisierte auf dem Podium auch die "Angstdebatte, den Misstrauensdiskurs" gegenüber dem Islam, die derzeit wieder durchschlagen würden: "Keine Religionsgemeinschaft sollte mit einem Generalverdacht versehen werden." Auch von der Buchbranche wünschte er sich, mit Verweis auf Thilo Sarrazins Bucherfolg "Deutschland schafft sich ab", manchmal mehr Sensibiliät bei der Frage, welche Bücher verlegt werden - das Echo aus dem Publikum und vom Podium folgte prompt: Eine wie auch immer geartete Form von Zensur dürfe es dabei nicht geben. Auch keine, die im Kopf stattfinde, wie Buchmesse-Direktor Juergen Boos ergänzte. Genauso gelte allerdings: "Die Werte und Rechte des anderen dürfen nicht verletzt werden". Alexander Skipis betonte: "Diese Buchmesse steht unter dem Thema Meinungsfreiheit. Wir alle müssen die Meinung des jeweils anderen ertragen."