Presseschau

Poesiefestival, NSDAP-Mitgliedschaften

3. Juli 2007
von Börsenblatt
"Es sind Gedichte, doch sie faszinieren die Massen. Das Berliner Poesiefestival demonstriert die Möglichkeiten der zeitgenössischen Lyrik", schreibt Andreas Resch in der "taz". Ebenfalls Themen: die Debatte über die angebliche NSDAP-Mitgliedschaft von Walser, Lenz und Hildebrandt.
"Was ein Gedicht ist" - Andreas Resch schreibt in der "taz" zur Lage der Poesie: Über Lyrik wird derzeit wieder einmal heftig diskutiert, die FAZ sieht in der Lyrik gar eine neue Avantgarde, was kritische Selbstreflexion anbetrifft. Von solchen Grundsatzdebatten war auf dem Poesiefestival nicht allzu viel zu spüren. Zwar sprachen Wissenschaftler und Autoren in einem Kolloquium über das "Bild in der Poesie". Doch niemand schien genau zu wissen, ob man nun sprachliche Bilder, Bildbeschreibungen oder konkrete Bilder meinte. Und eine Dichtung, die gar auf Metaphern oder poetische Bilder verzichtet, konnte sich auch niemand so recht vorstellen - obwohl sie doch nur ein paar hundert Meter weiter schon längst praktiziert wurde. Nimmt man sich nämlich die auf dem Poesiefestival vorgestellte Lyrik selbst zum Maßstab, so lassen sich zwei Thesen zum Stand der modernen Dichtung aufstellen. Erstens: Lyrik als literarische Gattung ist weiterhin im Begriff, zur Marginalie zu werden. Einer Marginalie allerdings, die durchaus massentauglich ist, sobald sie zur Performance wird. Zweitens: Wie kaum einer anderen Kunstform ist es der Poesie gelungen, in der Digitalität eine neue Identität zu finden. "Drei von zehn Millionen" - Über Siegfried Lenz, Martin Walser und Dieter Hildebrandt und ihre angebliche Mitgliedschaft in der NSDAP schreibt der Historiker Armin Nolzen in der "Frankfurter Rundschau": Lenz, Walser und Hildebrandt wussten, wovon sie sprachen. Als Angehörige der Geburtsjahrgänge 1926 und 1927 waren sie als Heranwachsende selbst vom NS-Regime sozialisiert worden. Nunmehr kehrt die Geschichte als Farce zurück; ihnen wird vorgeworfen, selbst Mitglied der NSDAP gewesen zu sein. Den Historiker, der sich mit der NS-Zeit beschäftigt, erinnert die aktuelle Diskussion wieder einmal schmerzlich daran, dass der Stand historischen Wissens über die Mitgliedschaft in der NSDAP noch immer defizitär ist. Bis heute gibt es keine einzige Monographie über die Aufnahmeverfahren in die NSDAP nach 1933 beziehungsweise über die Mechanismen der innerparteilichen Mitgliederintegration. Bedenkt man, dass die NSDAP am Ende des Krieges fast zehn Millionen Mitglieder aus allen sozialen Schichten der deutschen Bevölkerung umfasste, wird die Relevanz einer solchen Untersuchung deutlich. Mit der Zentralmitgliederkartei der NSDAP, die im Bundesarchiv Berlin erhalten geblieben ist, steht zwar ein riesiger Quellenfundus bereit. Die darin enthaltenen Mitgliederkarten ermöglichen jedoch nur quantifizierende Aussagen. Einzelschicksale kann man daraus nicht rekonstruieren. Nur unter Heranziehung einer Fülle zusätzlicher Quellen wird es möglich sein, auf der individuellen Ebene zu einer Einschätzung zu kommen, was es eigentlich bedeutete, Mitglied der NSDAP zu sein. "Wann war ein Mitglied ein Mitglied?" - Wer in die NSDAP wollte, habe seine Unterschrift leisten müssen. Nichts spreche dafür, dass dies bei Lenz, Walser und Hildebrandt anders war, schreibt dagegen Sven Felix Kellerhoff in der "Welt": Seit am Wochenende bekannt wurde, dass die beiden Schriftsteller Siegfried Lenz und Martin Walser sowie der Kabarettist Dieter Hildebrandt als Mitglieder der NSDAP registriert waren, herrscht Verwirrung: Was eigentlich bedeutete genau die Mitgliedschaft in der Hitler-Partei? Wurden Hitler-Jungen während des Krieges ohne eigenes Wissen, eventuell sogar gegen ihren Willen in die NSDAP aufgenommen? Warum finden sich auf den nun aufgetauchten Karten der drei Intellektuellen keine eigenhändigen Unterschriften? Grundsätzlich gilt: Umfassende Studien zur NSDAP selbst, ihren Mitgliedern und ihrem Wirken während des Dritten Reiches gibt es bis heute kaum. Grundlegend ist immer noch die für den internen Gebrauch der Besatzungsmächte erstellte Broschüre "Who was a Nazi?" von 1947. Die einzige größere Monografie stammt von Michael H. Kater, kam 1983 ("The Nazi Party") auf Englisch heraus - und ist nie ins Deutsche übersetzt worden. Die beste aktuelle Untersuchung stammt von dem Bochumer Historiker Armin Nolzen, der 2004 im Sammelwerk "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" den Beitrag zur NSDAP 1939 bis 1945 verfasst hat. Auch finden sich in Regionalstudien wichtige Fakten über die NSDAP, aber eben stets nur örtlich begrenzt.Das erstaunt, ist doch die Quellenlage mit den mehr als 11 Millionen NSDAP-Personalkarten des früheren Berlin Document Center (heute im Bundesarchiv Berlin sowie als vollständige Filmkopie in den National Archives in College Park/Maryland) zwar kompliziert, aber eben sehr reichhaltig. Vielleicht schreckt gerade diese ungeheure Fülle Zeithistoriker ab.Deshalb gibt es auch bisher keine unstrittigen Erkenntnisse über die Aufnahmeprozeduren. Fest steht aber, dass stets ein eigenhändig unterschriebener Aufnahmeantrag verlangt wurde. Am 18. März 1943 schickte zum Beispiel ein Bereichsleiter der NSDAP-Reichsschatzmeisterei namens Groll dem Gauschatzmeister des Gaus Moselland 498 Mitgliedskarten für zum 20. April 1943 neu aufgenommen Hitler-Jungs zu. Im Fall des Hitler-Jungen Wolfgang St. (Jg. 1925) wurde der Antrag unbearbeitet zurückgesandt, weil die Unterschrift fehlte.