re:publica 2016

Das große "Trotzdem"

6. Mai 2016
von Börsenblatt
"Die re:publica, wie ich sie erlebt habe", anders kann man einen Artikel über die größte europäische Digitalkonferenz in ihrem Jubiläumsjahr kaum beginnen. 400 Stunden Programm in etwa 500 Sessions mit 770 SprecherInnen auf siebzehn oft gleichzeitig bespielten Bühnen … Hier also ein sehr persönlicher Bericht über meine Highlights der rp2016.

Warum nicht mit Sascha Lobo beginnen, dem Netzerklärer, der seinem Ruf auch als Publikumsbeschimpfer schon zu Beginn seiner wenig mehr als einstündigen Rede gerecht wurde – in der völlig überfüllten Stage 1, der Hauptbühne, deren Zugänge kurz vor Beginn gesperrt werden mussten. Nach seiner schmunzelnden Ankündigung einer vierstündigen Rede dann diese Bemerkung: "Na ja, nicht ganz vier Stunden. Tendenziell versuche ich, die Stunde nicht allzu dramatisch zu reißen. Und wenn, dann wenigstens so, dass Ihr es nicht merkt … wie so vieles!"

The digital lost generation

Sascha Lobo begann mit einem Eingeständnis, das gegenwärtig so erstaunlich nicht ist. "Und es ist ein trauriges Eingeständnis … dass wir, wie wir hier alle zusammen stehen, wir dreißig- bis vierundfünfzigjährigen mit leichten Graubereichen an den Seiten, dass wir, wenn man ganz genau hinguckt, eigentlich die digitally lost generation sind." Die Hoffnung seiner Generation, als Blogger im und mithilfe des Netzes die Welt verändern zu können, habe sich zerschlagen. "Ich glaube tatsächlich, dass wir … aus dieser Enttäuschung heraus  einen neuen digitalen Gesellschaftsoptimismus entwickeln müssen. Keinen schnöden Netzoptimismus, wie ich lange dachte, keinen Optimismus, der sich zu stark auf das Internet bezieht, sondern: Die Gesellschaft ist das Netz und das Netz ist die Gesellschaft inzwischen an so vielen Stellen, dass eigentlich Netzoptimismus sich von alleine in einen Gesellschaftsoptimismus zu wandeln hat." Als Motto für diesen Optimismus, dieses Aufstehen und Auflehnen gegen die eigene Enttäuschung und die Fehlentwicklungen in Netz und Gesellschaft gab Sascha Lobo schließlich das Wort "Trotzdem" aus und damit auch dem Titel seines Vortrags, "The Age of Trotzdem", die Begründung. Wie ein Popstar sein Publikum mit "Are You ready!" oder "Are You with me!" einnordet, forderte Lobo seine Zuhörerschaft mehrfach auf, ihm das neue Mantra laut und bitte noch lauter entgegenzuschreien …

Moderne Cargo-Kulte

Am zweiten Tag der re:publica gehörte die Hauptbühne zunächst Gunther Dueck, auch er ein häufiger Gast der Konferenz. Mit seiner verschmitzt nuschelnden Art und gepflegter Schusseligkeit erklärte Dueck dem Auditorium zunächst, was man unter Cargo-Kulten zu verstehen hat. Ein Beispiel: Im Zweiten Weltkrieg nutzte das amerikanische Militär die nordöstlich von Australien gelegene melanesische Inselgruppe als Zwischenlager, um ihre Armee in Japan mit Nachschub zu versorgen. Man planierte Wälder, und die Melanesier konnten beobachten, dass immer dann, wenn Soldaten mit Kopfhörern und Kellen auf einen Turm stiegen und mit den Kellen winkten, die Vorfahren der Fremden Flugzeuge voll beladen mit Essen schickten und dort abwarfen oder landeten und ausluden. Nach dem Abzug der Amerikaner bauten die Melanesier aus Holz einen Turm und ein Flugzeug, schnitzten Kopfhörer und Kellen aus Holz, bestiegen den Turm und warteten auf ihre Ahnen in Flugzeugen. In der Hoffnung, dass diese ebenfalls Lebensmittel abwerfen würden.

Cargo-Kulte entstehen also, wenn man Ursache und Wirkung nicht versteht und falsche Schlüsse aus der Beobachtung zieht. Nun sollte man, so Dueck, dieses Missverständnis der Melanesier nicht belächeln. Denn wir huldigen selbst täglich unseren Cargo-Kulten. Mit vielen Beispielen aus Politik und Wissenschaft, Management und Publizistik, die man sich hier anschauen kann, unterhielt Dueck anschließend sein Publikum mit modernen Cargo-Kulten. Seine amüsante Lehrstunde über gegenwärtige Missverständnisse sei hiermit allen zur visuellen Lektüre empfohlen.

Raster des Hasses

Wenige Stunden später betrat die Publizistin und Autorin Carolin Emcke die Hauptbühne der re:publica – ihr Vortrag markiert jedenfalls für mich den Höhepunkt der diesjährigen Veranstaltung. Mit gedanklich wie sprachlich nahezu chirurgischer Präzision ging sie dem Wesen und der Struktur des Hasses auf den Grund. In den Mittelpunkt ihrer Rede stellte sie ihre Sicht auf die Vorgänge in Clausnitz. (Wir erinnern uns an das schockierende Video aus dem Dorf im östlichen Erzgebirge, in dem gezeigt wird, wie Flüchtlinge in einem Bus – mit der digitalen Schriftanzeige "Reisegenuss" –  stundenlang von einem pöbelnden Mob am Ausstieg gehindert wurden.)

Carolin Emckes komplexe Analyse des Phänomens Hass lässt sich hier beim besten Willen nicht zusammenfassen. Erwähnt sei aber einer ihrer Schlussgedanken. Dass sie aufgrund des öffentlichen Bekenntnisses zu ihrer Homosexualität und ihrer publizistischen Tätigkeit ebenfalls von vielen gehasst wird, empfindet sie als Privileg. Denn sie wird dafür gehasst, dass sie sich bekennt, publiziert, Gedanken und Meinungen öffentlich macht. Sie wird als Person gehasst. Ganz im Unterschied zu den Flüchtlingen in Clausnitz, die allein deshalb gehasst werden, weil sie Teil eines verachteten Kollektives sind. Deren Individualität überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird und keine Rolle spielt. Viele ZuhörerInnen dankten Carolin Emcke mit einer Standing Ovation – und das ist auf der re:publica wirklich selten!

Zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse erscheint im Oktober ein neues Buch von Carolin Emcke, "Gegen den Hass" (S. Fischer Verlag), auf dessen Manuskript ihr Vortrag offensichtlich basierte. Es ist bedauerlich und unverständlich, dass ihre Session – im Unterschied zu denen von Sascha Lobo und Gunther Dueck – jedenfalls bis heute noch nicht als Video auf die Homepage der re:publica gestellt worden ist. Falls dies noch geschieht, wird hier unverzüglich ein Link gesetzt.

Versuch einer Bilanz

Ich habe die drei Vorträge deshalb für meinen Bericht über die re:publica 2016 ausgesucht, weil gerade sie in ihrer Unterschiedlichkeit die Spannweite, aber auch den politischen Anspruch der Konferenz unterstreichen. Gegen die Resignation der Netzgemeinde wandte sich Sacha Lobo, gegen das Versagen kritischen Denkens sprach Gunther Dueck an und gegen das Wegsehen positionierte sich Carolin Emcke. Mit diesen drei Vorträgen und vielen anderen Sessions hat die zehnte re:publica ihre Rolle als wichtigste Digitalkonferenz Europas eindrucksvoll markiert.

Unbestritten ein weiteres Highlight der Konferenz war die Session #digitaleBildung, über die ausführlich auf bookbytes geschrieben wurde.