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Zwei Buchtitel. Ein Vergleich

12. November 2010
von Börsenblatt
"La solitude dei numeri primi" erscheint 2008 in Italien. Ein junger, die Feuilletons bewegender Roman. 2009 übernimmt Blessing die Lizenz für Deutschland und auch das Umschlagkonzept: Durch minderdichtes Blattwerk hindurch, schaut uns die scheue junge Frau mit den braunen Rehaugen direkt ins Herz. Leid, ja, vor allem aber Sinnlichkeit verspricht das Motiv.
Der Zweig hält uns sittsam auf Distanz, aufgeschobene Erotik pur. Die Algebra verheißende Titelzeile, "Die Einsamkeit der Primzahlen", tut dem erstmal keinen Abbruch.

Das Cover verspricht die Tiefgründigkeit des unter ihm geborgenen Textes. Dies ist die zeitgemäße Bildsprache für den zeitgenössischen Roman.

Im gleichen Jahr erscheint der erste von insgesamt drei Bänden der Fantasy-Trilogie "Die Tribute von Panem" auf dem deutschen Markt. Er behauptet sich erfolgreich sowohl im populären All-Age-Segment als auch auf der Spiegel-Bestsellerliste. Die beiden ersten Bände bescherten Oetinger bisher eine verkaufte Auflage von über 200.000 Exemplaren, der dritte Band erscheint im Januar 2011.

Bestandteil des sicheren Erfolgskonzepts ist die Titelgestaltung, Variationen des beliebten Motivs "Antlitz hinter Blattwerk"  – trotz seiner Statik ein scheinbar flexibles Gestaltungskonzept. Visuell gerahmt können dem Publikum so verschiedenste komplexe Gefühlszustände vermittelt werden: Angst, Lust, von mir aus auch Begierde. Die variierende Farbe der Blätter dient dem weniger sensiblen Leser zudem als Verstehenshilfe – rote Blätter = "Gefährliche Liebe" (Band 2)

Wem diese Anmutung nun bekannt vorkommt, vermutet richtig. Zum einen interpretiert die "Panem"-Reihe ihr Antlitz sehr nahe an der italienischen Inspiration, darüberhinaus ist sie in der idealisierten Gestaltungssytematik der Kosmetikindustrie umgesetzt: Glatte Haut, strahlende Augen und schwellende Lippen. Der ebenso perfekt geformte Schriftzug "Panem" könnte auch der Name einer Tagescreme-Serie sein, deren Wirkstoffe aus exotischen Blättern extrahiert werden. Das ist gelernte, tausendfach erprobte Gefälligkeit.

Perfektion ist bekanntermaßen Zeitgeist. Gestalter zeitgeistiger Literatur können sich diesem Diktat nicht entziehen. Beide Umschlagkonzepte, "Die Einsamkeit der Primzahlen" und die "Panem"-Serie, wurden übrigens entwickelt von der Zürcher Agentur Hauptmann & Kompanie. Ein Zufall?

 

Robert Schumann