Weltempfang auf der Buchmesse

Genaues Beobachten bedeutet Zerteilen

20. Oktober 2016
von Börsenblatt
Die Bühne des Weltempfangs auf der Frankfurter Buchmesse wurde gestern mit einer Diskussion über das Verhältnis Europas und der islamischen Welt eröffnet. Es war vor allem ein Plädoyer für Differenzierung.

Der Weltempfang ist eine der wichtigsten Bühnen auf der Buchmesse – jedenfalls dann, wenn man die Messe nicht nur als Wirtschaftsveranstaltung betrachtet, sondern dezidiert auch als Platz für den gesellschaftspolitischen Dialog. Den Anspruch, Ort für solche Debatten zu sein, formuliert die Frankfurter Buchmesse seit einigen Jahren immer deutlicher. So entschieden wie in diesem Jahr geschah es jedoch kaum je zuvor. Dies ist auch Ausdruck einer krisenhaften Zeit und der zunehmenden Bedrohung der Freiheit des Wortes. "Meinungsfreiheit" ist daher der vielleicht prägnanteste kommunikative Schwerpunkt auf der diesjährigen Buchmesse (in den Fokus rückt vor allem auch die Türkei) – nirgendwo wird das in der Summe hochkarätiger Veranstaltungen kenntlicher als beim Weltempfang. 

"Europa und der Islam"

Eröffnet wurde der Weltempfang gestern kurz vor Messeschluss mit einer Podiumsdiskussion unter der Überschrift "Europa und der Islam". Moderiert vom Europa-Parlamentarier Daniel Cohn-Bendit waren der algerische Schriftsteller und Friedenspreisträger Boualem Sansal, die türkische, vornehmlich in London lebende Autorin Elif Shafak (ihr Roman "Der Geruch des Paradieses" ist gerade erschienen) und Andreas Görgen, Leiter der Kultur und Kommunikationsabteilung im Auswärtigen Amt, eingeladen, dem Verhältnis von Europa und islamisch geprägten Ländern diskursiv nachzuspüren.

Die beiden Schriftsteller plädierten dabei zuallererst für einen differenzierten Blick, ganz im Sinne Herta Müllers, die einmal formuliert hat: "Genaues Beobachten bedeutet Zerteilen." Der Islam werde von Europäern vielfach als monolithischer Block betrachtet, tatsächlich existiere DER Islam nicht, sondern manifestiere sich in vielen verschiedenen Formen und Ausprägungen. Boualem Sansal kritisierte offen eine Ignoranz vieler Europäer: "Wir kennen euch, aber ihr wisst nichts über die Welt, die euch gegenübersteht."

Die Diskussion zu fokussieren gelang dem Moderator nicht, vielleicht war es auch gar nicht seine Absicht. Cohn-Bendit führte stattdessen von einem großen Diskussionsfeld zum nächsten – gestreift wurde die Erinnerungspolitik in der Türkei, die deutsche Kulturpolitik im Ausland und die allgemeine Stimmungslage hierzulande. Für die beiden Betrachter von außerhalb (Sansal lebt bei Algier, Shafak in London) sind die zunehmenden Ängste der Menschen in den westlichen Gesellschaften nachvollziehbar. Shafak glaubt, es werde zu wenig getan, um die Besorgnisse zu verstehen. Für Sansal sind sie nachvollziehbare Reaktion auf Phänomene der Gegenwart. Er nannte Terrorismus, eine zunehmende "Islamisierung Europas" und eine immer weniger gewichtige Rolle Europas im Weltmaßstab. 

Das mag eine allzu einseitige Diagnose sein, doch widersprochen wurde Sansal nur zaghaft. Görgen plädierte dafür, das westliche, demokratisch verfasste Modell als Vorschlag zu betrachten, wie eine Gesellschaft organisiert sein könne. Man stelle sich selbstbewusst der Konkurrenz unterschiedlicher Organisationsformen des Zusammenlebens.

Keine Zauberformel in Sicht

Wie denn die gewaltigen gegenwärtigen Probleme auf nationaler und internationaler Ebene gelöst, wie Konflikte befriedet und ihre Ursachen beseitigt werden können, dafür fand auch die Runde nicht die Zauberformel. Shafak will ganz im Sinne der diesjährigen Friedenspreisträgerin Carolin Emcke Minderheiten stark machen, Görgen sieht Deutschland und dessen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte als Role-Model für den Umgang mit Krisen, und Sansal wünscht sich, dass die großen Fragen nicht einzeln behandelt, sondern in Verbindung miteinander gebracht werden: Wirtschaft, Klima, Finanzen, Flüchtlinge – man müsse alles zusammendenken. Gegen eine allzu große Zuversicht wehrte er sich jedoch, Optimismus sei gefährlich, notwendig stattdessen ein "positiver Pessimismus". Was das genau ist, wurde nicht mehr besprochen.