Für saturierte Europäer, an die Frankfurter Buchmesse mit ihrer geschäftigen Fachbesucher-Klientel gewöhnt, sind Buchmessen im arabischen Raum im ersten Moment ein lauter, umtriebiger (Alp)Traum: Massen an Besuchern aller Alters- und Gesellschaftsschichten schieben sich durch wenige Hallen, mitunter auch Zelte, es wird laut verhandelt (richtig gelesen: verhandelt - schließlich gibt es hier keine Buchpreisbindung) und verkauft, Zeichen dafür sind die vielen kleinen Registrierkassen an jeder Stand-Ecke. Lehrer und Schulklassen decken sich mit einem Jahresvorrat an Schulbüchern ein, viele Besucher haben lange Anreisen hinter sich, um an begehrte Literatur zu kommen. Dieses Jahr fanden sich in Kairo »850 Aussteller und etwa 3 Millionen Besucher«, so Sherif Bakr, General Manager bei Al Arabi Publishing and Distributing. Zum Vergleich: Frankfurt wurde letztes Jahr von 275.000 Besuchern frequentiert, Leipzig von 186.00 Besuchern. Karam Youssef beispielsweise, Verlegerin des Al Kotob Khan-Verlags, ist dieses Jahr zum dritten Mal auf der Cairo Internation Book Fair und nutzt diese, »um andere Verleger und Autoren zu treffen, aber auch, um unsere Bücher einem breiteren, interessierten Publikum zu präsentieren. Gleichzeitig bin ich auch Inhaberin einer Buchhandlung und decke hier meinen Bedarf an Neuheiten«.
Diese Ausrichtung der Kairoer Buchmesse hängt natürlich sehr stark mit der eher rudimentären Buchhandelsstruktur und der Distribution von gedruckten Büchern im arabischen Raum zusammen. Die dortigen Buchmessen sind primär Endkunden- und Verkaufsmessen, da diese oft und für viele die einzige Möglichkeit sind, überhaupt an Bücher zu kommen. Der grenzüberschreitende Transfer ist dabei eine noch größere Hürde. Mansura Eseddin, eine der bekanntesten Autorinnen in arabischer Sprache, kennt das Problem gut: »Es ist sehr schwer und ein ernsthaftes Problem, Bücher aus Ägypten beispielsweise in Marokko, dem Libanon oder den Golfstaaten zu beziehen«.
Digitalisierung als Distributionschance
Distributions- und Ländergrenzen stellen in digitalen Märkten per se keine Hindernisse dar (und falls doch fußen diese eher auf juristischen Regelungen) und können das Problem der Anlieferung von Inhalten lösen, gleichzeitig aber auch für mehr Leserreichweite sorgen. Zumal die Verbreitung von Lesegeräten wie Smartphones in allen »emerging markets« im Verhältnis zu typischen Digitalmärkten wie US/UK oder Deutschland mindestens ebenso hoch wenn nicht höher ist. So schreibt Ahmed Rashad in »Exploring Licensing Translation Rights in the Arab World« (erschienen in Publishing Research Quarterly, Springer Verlag): »Obwohl die papierbasierte Verlagsindustrie in der arabischen Welt erst 400 Jahre später als in der westlichen Hemisphäre aufkam wird das elektronische Publizieren in Ägypten und der arabischen Welt mit wesentlich kürzerer Zeitdifferenz auftreten … es kann davon ausgegangen werden dass in den nächsten 10 Jahren 75% aller Titel an Schulen, Universitäten und in Büchereien digital verfügbar sind, in allen anderen Buch-Genres sicher 25-30%.« Karam Youssef sieht das ähnlich, rechnet aber auch mit »7-10 Jahren« bis zu einer flächendecken Versorgung mit E-Books und das Problem, erst grundlegende »Infrastruktur-Probleme zu beseitigen: schnelle, stabile und bezahlbare Zugänge für alle«.
Tatsächlich gehen diese Bemühungen stetig voran, in Ägypten vornehmlich durch einen großen Mobilfunkbetreiber vorangetrieben – keine Überraschung, wenn man über den riesigen Markt »Smartphone-Reading» nachdenkt. Und so wundert es nicht, dass pünktlich zur diesjährigen Cairo International Book Fair auch ein Gigant wie Google den E-Book-Markt betrat, wenn auch im ersten Schritt nur mit dem Programm des größten Verlagshauses, El Sherouk. Daraus entstehen aber auch Probleme, wie Sherif Bakr meint: »Alle Plattformen, die jetzt aus dem Boden sprießen, wollen natürlich verkaufen und konzentrieren sich dabei auf die Beststeller, die meist bei den großen Häusern liegen. Das wirkt sich nicht nur auf Konditionenverhandlungen aus, sondern hat auch Nachteile für die kleineren Verlage, die hier nicht mithalten können oder erst gar nicht zum Zuge kommen.«
Piraterie
Am Beispiel Russland sieht man, welche Folgen einerseits ein in Sachen E-Book-Nutzung fortgeschrittener Markt hat, bei dem aber andererseits die Zahlungsbereitschaft dafür und die Respektierung des Urheberrechts nicht sehr ausgeprägt ist. Eine ähnliche Situation findet man auch im arabischen Raum vor. Mansura Essedin: »Elektronische Bücher sind sicher eine Lösung für viele Probleme, die die Verlagsbranche hierzulande betreffen. Aber die Piraterie, das Konvertieren großer Mengen an gedruckter Literatur ist ein riesiges Problem. Einerseits kann ich aus Autorensicht nicht leugnen, dass dies zu einer höheren Leserschaft führt. Aber wenn, wie ich einmal gelesen habe, 98% des E-Book-Marktes auf Piraterie entfallen, schadet das der Verlagsbranche massiv.«
Das E-Book - ein Stück Meinungsfreiheit?
Ein Nebeneffekt der Digitalisierung und der (weitgehend) freien Verfügbarmachung von Literatur betrifft aber auch das Thema Zensur.
Mansura Essedin: »Das Internet bietet generell über Websiten oder Blogs Autoren die Möglichkeit, eine größere Leserschaft auch für nonkonformistische Literatur zu erreichen.« Sherif Bakr sieht dies auch für die Medienform E-Book: »Wir können damit nicht nur generell die Zensur, die in vielen arabischen Ländern, herrscht, umgehen. Es bekommen auch viel mehr Menschen die Möglichkeit, als Selfpublisher zu veröffentlichen und derzeit tabuisierten Themen eine Öffentlichkeit zu verschaffen«. Mansura Essedin kann dabei auch Vorteile der Piraterie entdecken: »Viele zensierte gedruckte Bücher sind beispielsweise als PDF-Raubkopie auf entsprechenden Plattformen abseits der offiziellen Kanäle verfügbar, manche Raubkopierer proklamieren ihr Angebot auch exlizit als Akt des Widerstands gegen Zensur«.
Die nächsten Jahre werden also auch in Sachen Digitalisierung und E-Book-Verbreitung weiter spannend bleiben und sind weit entfernt von der (vermeintlichen) Sättigung der westlichen Märkte. Das Thema Meinungsfreiheit und Piraterie bleibt sicher ambivalent: eine hohe Verbreitung an Literatur zur freien Meinungsbildung muss dabei nicht unbedingt Hand in Hand gehen mit den wirtschaftlichen Interessen der arabischen Verlage. Und ein grundlegendes Problem, das man in westlichen Ländern gerne übersieht, ist auch weiterhin, wie Karam Youssef noch anfügt, der zu bekämpfende Analphabetismus vieler Menschen in der Region: »Der Anteil derer, die Lesen können, ist leider immer noch im Verhältnis sehr klein und das ist sowohl schade wie gefährlich«.
Mit Dank an alle, die diesen Artikel durch Input und Interviews ermöglicht haben, vor allem Mansura Essedin, Sherif Bakr sowie Karam Youssef. Und Dank natürlich an Claudia Dobry und Iris Klose von der Buchmesse Frankfurt und Sabine Reddel vom Goethe-Institut Kairo für die Unterstützung vor Ort.