Interaktives Erzählen

Das Gewehr an der Wand

6. März 2015
von Börsenblatt
Stephan Selle hat für BookBytes den interaktiven Roman »80 Days« getestet und sich anschließend Gedanken über das interaktive Erzählen gemacht.

Vielleicht hätten wir, mein Avatar Passepartout und ich, eine romantische Affäre mit der jungen Dame in Venedig haben können. Immerhin haben wir sie aus der Lagune an Land gezogen, bevor die Nichtschwimmerin in ihren vielen Kleidern unterging. Aber da wir alle zum Personal eines interaktiven Romans namens 80 Days gehören, stehen nach der Rettung gleich drei Optionen für die Fortsetzung der Geschichte zur Verfügung. In der von mir gewählten ersten Variante fing ich mir sofort eine Ohrfeige von der Geretteten ein: von da an habe ich Venedig gemieden.

80 Days ist für die einen ein interaktiver Roman, für die anderen ein Spiel mit ziemlich viel Text. Wie in der Vorlage von Jules Verne versucht das handelnde Wir – Passepartout und ich – unseren gemeinsamen Herrn, Phileas Fogg, in 80 Tagen um die Welt und damit zum Gewinn einer erheblichen Geldsumme zu bringen. Wir bestimmen die Route, kaufen die Reiseutensilien und bestehen die Abenteuer. Die App ist ein wirklich toll gemachter Hybrid aus Text und Spiel und daher zu Recht mehrfach preisgekrönt.

Ein normales Buch ist wie eine Portion Kaffeepulver nach einem Durchgang erledigt, ein zweiter Aufguss ist schon erheblich schlapper. (Natürlich ausgenommen der Zauberberg, den muss man sogar, sagt Thomas Mann, zweimal lesen!). Nicht so 80 Days! Denn nach der ersten Umrundung arbeitet der erfahrene Weltenbummler genüsslich andere Routen ab, mit der Transsibirischen Eisenbahn durch Asien oder mit dem Schiff durch den Suez-Kanal und über den Pazifik. In jeder Stadt können wir auf den Markt gehen, ortsübliche Abenteuer erleben, in landestypischen Hotels oder Kaschemmen nächtigen.

Im Verne’schen Original stellt der Leser am Ende erstaunt fest, dass eine Reise um die Welt identisch ist mit einer Reise durch die englischen Kolonien: das Wetter ändert sich, die Mentalität nicht. Das Spiel dagegen setzt mit den Hunderten von Routen auf moderne bunte Vielfalt, wir sehen sogar, welche Leser-Spieler gleichzeitig auf anderen Routen unterwegs sind: viele spielen mit, die Fangemeinde ist groß, international und gierig auf neue Orte und Routen. Alles prima also? Ja, aber …

… als erfahrener Leser habe ich gelernt, der Autorität des Autors (Die Wörter klingen nicht zufällig ähnlich!) zu vertrauen. Seine Geschichte ist das faktisch Fiktionale, Autorinnen und Autoren sind kleine Götter, die ihre Welten und alles, was darin passiert, erschaffen. Dass ich popeliger Leser bei diesem Schöpfungsakt mitwirken soll, kommt mir unangemessen vor, mein Job als Leser ist es, verstehend zu genießen, genießend zu verstehen und im eigenen Kopf die geschriebene Welt auf- und nachzubauen.

Ich muss 80 days aber spielen, ich darf nicht nur lesen – muss agieren, muss einkaufen, Entscheidungen treffen, Geld verdienen, Rennen gewinnen, kurz: Krisen meistern. Mechanisch ähnelt mein digitaler Roman den text-basierten Computerspielen der 1980er Jahre:„Im Norden ist eine Höhle, im Westen ein Wald, im Osten ein Fluss. Wohin gehst du?“

Textlastige Spiele sind schon seit Jahrzehnten eine Herausforderung für arrivierte und erfolgreiche Schriftsteller. Autoren wie Neal Stephenson–Snow Crash, Diamond Age, sein Barock-Zyklus – und Boris Akunin, einer der erfolgreichsten Krimi-Autoren russischer Sprache, und sogar die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek haben sich um 2010 herum mit interaktivem Erzählen beschäftigt. Doch von Stephensons The Mongoliad ist eine erfolgreiche, aber gedruckte Romanreihe übrig geblieben, bei Akunins Kvest kam nach vollmundigen Ankündigungen nichts mehr und Jelineks Neidkann man auf ihrer Web-Seite als PDF herunterladen.

Vielleicht hat ein erfahrener Autor ein ähnliches Problem wie ein erfahrener Leser: Seine neue Arbeit ist fast nur noch Konstruktion, wenig Inspiration, er muss ein narratives Gleisnetz über viele Kilometer bauen, bei dem alle Teilstrecken zu gegebener Zeit wieder auf die Hauptstrecke zurück führen, er muss mehr basteln als schreiben. Und auch der Leser bastelt: an einer halbwegs fesselnden Geschichte, die es schafft, die dauernden Leseunterbrechungen durch die Spielelemente zu überleben.

Ein weiteres Problem für den guten Autor: Sein Schreiben muss im dauernden Jetzt stattfinden, für Entbehrungen und Schmerzen werden wir in der Zukunft nicht belohnt und –was noch schlimmer ist – wir lernen nicht aus unserer Vergangenheit. Überdies entfallen die in guten Geschichten beim Leser sehr beliebten Rückbezüge auf Dinge und alle Vorausdeutungen, denn der Schreiber weißnicht, in welcher seiner vielen Welten ich gerade unterwegs bin. „Diesmal nehmen wir kein Dampfauto, dass hat uns auf der Fahrt nach St. Petersburg schon einmal im Stich gelassen.“Geht nicht! „Wir werden dereinst froh sein, dass wir diese Abkürzung nicht genommen haben!“Geht nicht!

Zum Erzählen gehört eine narrative Ökonomie, die alle Elemente einer Geschichte notwendig macht. Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann wird es im letzten Akt abgefeuert, soll Anton Chekhov gesagt haben. Warum sonst sollte der Autor ein Gewehr einführen? Wenn ich aber gerade in einer gewehrlosen Welt unterwegs bin?

Gehört dem interaktiven Roman die Zukunft, eine Zukunft? Nein. So wenig wie dem interaktiven Film –Hollywood und das deutsche Fernsehen haben es schon ausprobiert im Kino und im Fernsehen –oder dem interaktiven Musik- oder Theaterstück. Es klingt immer so toll nach Freiheit, wenn ich selbst als Leser oder Konsument entscheiden kann, was passiert, aber das ist leider reine Ideologie: Wir alle lassen uns gern etwas vormachen, gern lange und gern ununterbrochen, am liebsten von den besten Vormachern. Denn eine gute Geschichte ist wie ein gutes Leben (warum denke ich dabei an Jürgen Marcus?): Am Ende sind beide das Ergebnis einer Reihe von Ereignissen, in der das Frühere der Grund für das Spätere ist: post hoc, ergo propter hoc (es geschieht danach, also deswegen).