Friedenspreisverleihung: Salman Rushdies Dankesrede in der Paulskirche

"Frieden für ein ganzes Jahr - abgefüllt und frei Haus geliefert"

22. Oktober 2023
von Sabine Cronau

Die Fatwa, die vor über 30 Jahren gegen Salman Rushdie verhängt wurde, das Attentat vom August 2022, das ihn fast getötet hätte, die düstere aktuelle Weltlage: Der Ernst der Themen, die über der Friedenspreisverleihung 2023 lagen, war erdrückend. Doch der Ton in der Paulskirche setzte einen heiteren, humorvollen Kontrapunkt zu all den Schrecken – durch eine im Wortsinn fabelhafte Dankesrede des Preisträgers.

Salman Rushdie und Karin Schmidt-Friderichs

Viel Prominenz, viele Sicherheitsmaßnahmen

Personalisierte Eintrittskarte plus gültiger Ausweis, keine Mäntel oder große Taschen im Festsaal: Die Sicherheitsvorkehrungen bei der Preisverleihung waren diesmal strenger denn je. Und das lag nicht an den vielen prominenten Gästen aus Berlin (etwa Kulturstaatsministerin Claudia Roth, Wirtschaftsminister Robert Habeck, Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir), sondern am Preisträger selbst.

Weil der iranische Ajatollah Chomeini 1989 eine Fatwa gegen ihn ausgesprochen hat, lebt Salman Rushdie in ständiger Gefahr. Im August 2022 hat er nur knapp einen Mordanschlag überlebt. „Trotz massiver körperlicher und psychischer Folgen, mit denen er noch immer ringt, schreibt er weiter: einfallsreich und zutiefst menschlich“, so der Stiftungsrat des Friedenspreises in der Begründung zur diesjährigen Wahl.

Es ist ein Privileg, in diesen Mauern sprechen zu dürfen. Und nun lassen Sie mich damit anfangen, dass ich Ihnen eine Geschichte erzähle.

Salman Rushdie, Friedenspreisträger 2023

Eine Tierfabel aus dem "Panchantantra"

Um die Auszeichnung persönlich entgegenzunehmen, nahm Rushdie die Anstrengungen der Reise und der vielen Sicherheitsmaßnahmen auf sich: „Es ist ein Privileg, in diesen Mauern sprechen zu dürfen“, so der indisch-britische Schriftsteller in seiner mit Spannung erwarteten Dankesrede vor 700 Gästen aus Politik, Kultur und Medien, darunter Friedenspreisträger:innen vergangener Jahre wie Liao Yiwu, Carolin Emcke, Aleida und Jan Assmann - aber auch eine Klasse aus dem Berufskolleg in Paderborn, die im Rahmen einer schulischen "Reise zur Demokratie" Station in der Paulskirche macht. 

„And now let me tell you a story": So begann der große Geschichtenerzähler Salman Rushdie seine Rede - und zog das Publikum mit einer Tierfabel aus der altindischen Geschichtensammlung "Panchantantra" in den Bann - mit dem Titel "Wie man Zwietracht unter Freunden sät". Wer sie nachlesen will: Die ganze Rede des Preisträgers findet sich in einer Beilage des kommenden Börsenblatts – und unter www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de.

Salman Rushdie sprach vor rund 700 Gästen

Frieden will mir im Augenblick wie ein dem Rauch der Opiumpfeife entsprungenes Hirngespinst vorkommen.

Salman Rushdie

Die Gier nach Macht und Eroberung

Was bedeutet Frieden - und was bedeutet Freiheit? Um diese Fragen kreiste Rushdies Rede, in der er auch auf die aktuellen politischen Krisen in der Ukraine und im Nahen Osten einging: „Hier sind wir nun versammelt, um über Frieden zu sprechen, wo doch gar nicht weit fort ein Krieg tobt, ein der Tyrannei eines einzelnen Mannes und seiner Gier nach Macht und Eroberung geschuldeter Krieg, ein trauriges Narrativ, dem deutschen Publikum nicht unbekannt“, so der Friedenspreisträger: „Und in Israel und dem Gazastreifen ist noch ein bitterer Konflikt explodiert.“

Frieden, so Rushdie mit Blick auf die Weltlage, „will mir im Augenblick wie ein dem Rauch der Opiumpfeife entsprungenes Hirngespinst vorkommen.“ Selbst auf die Bedeutung dieses Wortes könnten sich die Kombattanten nicht einigen.

Für die Ukraine bedeute Friede mehr als nur ein Ende der Feindseligkeiten, betonte Rushdie: „Friede, das ist für sie – und das muss es auch sein – die Rückgabe aller besetzten Gebiete und eine Garantie ihrer Souveränität. Für den Feind der Ukraine bedeutet Friede die Kapitulation der Ukraine und das Eingeständnis, dass verlorene Gebiete verloren bleiben. Dasselbe Wort, zwei unvereinbare Bedeutungen. Ein Friede für Israel und die Palästinenser scheint sogar in noch weiterer Ferne zu liegen.“

Erste Reihe mit Vizekanzler Robert Habeck

Mir gefällt der Gedanke, dass der Friede selbst der Preis ist, dass die Jury Magisches kann, gar Fantastisches.

Salman Rushdie

Ein ganzer Jahresvorrat Pax Frankfurtiana

Fabeln, Märchen und Mythologien haben Rushdies Werk beeinflusst – für ihn hat aber auch ein Friedenspreis „etwas entschieden Fabelhaftes an sich“. Ihm gefalle der Gedanke, dass der Friede selbst der Preis ist, dass die Jury Magisches kann, gar Fantastisches, so der Schriftsteller – „eine Jury weiser Wohltäter, so unendlich mächtig, dass sie einmal im Jahr und keinesfalls öfter, einem einzigen Menschen und keinesfalls mehr, mit Frieden für ein ganzes Jahr belohnen darf. Mit einem wahrhaften, gesegneten, vollkommenen Frieden, nicht mit dem trivialen, bloß zufriedenstellenden paix ordinaire, sondern mit dem edlen Jahrgang Pax Frankfurtiana, einem ganzen Jahrvorrat davon, elegantes Bukett, abgefüllt und frei Haus geliefert. Das wäre eine Belohnung, die ich überglücklich annähme. Ich überlege sogar, eine Geschichte darüber zu schreiben: "Der Mann, der den Frieden als Preis erhielt".

Danach kehrte Rushdie zurück zur ernsten Gegenwartsanalyse: „Wir leben in einer Zeit, von der ich nicht geglaubt habe, sie erleben zu müssen, eine Zeit, in der die Freiheit – insbesondere die Meinungsfreiheit, ohne die es die Welt der Bücher nicht gäbe – auf allen Seiten von reaktionären, autoritären, populistischen, demagogischen, halbgebildeten, narzisstischen und achtlosen Stimmen angegriffen wird, eine Zeit, in der sich Bildungseinrichtungen und Bibliotheken Zensur und Feindseligkeit ausgesetzt sehen; in der extremistische Religionen und bigotte Ideologien beginnen, in Lebensbereiche vorzudringen, in denen sie nichts zu suchen haben.“

Wir leben in einer Zeit, von der ich nicht geglaubt habe, sie erleben zu müssen, eine Zeit, in der die Freiheit – insbesondere die Meinungsfreiheit, ohne die es die Welt der Bücher nicht gäbe – auf allen Seiten angegriffen wird.

Salman Rushdie

Die Lüge steht gleich neben der Wahrheit

Daneben, so Rushdie, gebe es sogar progressive Stimmen, die sich für eine neue Art von bien-pensant Zensur aussprechen würden – „eine Zensur, die sich den Anschein des Tugendhaften gibt und die viele, vor allem junge Menschen, auch für eine Tugend halten.“

Von links wie rechts gerate die Freiheit damit unter Druck, von den Jungen wie den Alten, betonte der Friedenspreisträger: „Das hat es so bislang noch nicht gegeben und wird durch neue Kommunikationsformen wie das Internet noch komplizierter, da gut gemachte Webpages mitsamt ihren böswilligen Lügen gleich neben der Wahrheit stehen, weshalb es vielen Menschen schwerfällt, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Zudem werde in den sozialen Medien Tag für Tag die Idee der Freiheit missbraucht, „um dem Mob online das Feld zu überlassen, wovon die milliardenschweren Besitzer dieser Plattformen profitieren und was sie zunehmend in Kauf zu nehmen scheinen.“

Verlegerinnen und Verleger gehören zu den wichtigsten Wächtern der Meinungsfreiheit. Danke für eure Arbeit und bitte, wenn dies überhaupt geht, dann macht sie noch besser, seid noch tapferer und lasst tausend und eine Stimme auf tausend und eine verschiedene Weisen sprechen.

Salman Rushdie

Auf Hass mit Liebe antworten

Was also tun, wenn die Meinungsfreiheit auf derart vielfältige Weise missbraucht wird? Rushdies Antwort: „Wir sollten weiterhin und mit frischem Elan machen, was wir schon immer tun mussten: schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann. Wir müssen sie erbittert verteidigen und sie so umfassend wie möglich definieren, was natürlich heißt, dass wir die freie Rede auch dann verteidigen, wenn sie uns beleidigt, da wir die Meinungsfreiheit sonst überhaupt nicht verteidigen würden.“

Zu den wichtigsten Wächtern der Meinungsfreiheit gehören für Rushdie Verlegerinnen und Verleger, wie er in der Paulskirche deutlich machte – direkt an sein Publikum gewandt: „Danke für eure Arbeit und bitte, wenn dies überhaupt geht, dann macht sie noch besser, seid noch tapferer und lasst tausend und eine Stimme auf tausend und eine verschiedene Weisen sprechen.“

Daniel Kehlmann

Wie souverän Salman Rushdie mit einer Lage umging, die andere Menschen seelisch erdrückt hätte, das verschlägt einem schon den Atem

Daniel Kehlmann, Laudator

Ein Verfolgter, der sichtbar bleibt

Die Laudatio hielt der deutsch-österreichische Schriftsteller Daniel Kehlmann, der mit Rushdie befreundet ist und mit ihm die Lust am Fabulieren, am Geschichtenerzählen teilt. „Wie souverän Salman Rushdie mit einer Lage umging, die andere Menschen seelisch erdrückt hätte, das verschlägt einem schon den Atem“, so Kehlmann mit Blick auf die Fatwa und das Attentat. „Die meisten von uns erfahren ja gottlob nie, wie sie sich in extremen Situationen verhalten würden, aber er hat es ganz genau erfahren, und mir fallen nicht viele Menschen ein, von denen ich Grund hätte anzunehmen, dass sie die Prüfung so gut bestehen würden wie er.“

Kehlmann warf auch einen Blick zurück in das Jahr 1988, als Rushdies Buch „Die satanischen Verse“ erschien und im Jahr darauf die Fatwa über ihn verhängt wurde: Natürlich sei die Öffentlichkeit damals allenthalben empört gewesen über den Mordaufruf des Ayatollahs, „aber so richtig wollten die westlichen Regierungen sich dann davon doch nicht die Geschäfte verderben lassen. Die Grunderwartung an Salman Rushdie war eigentlich die, dass er sich im Gegenzug für den ihm zugestandenen Personenschutz an einen verborgenen Ort zurückziehen und nicht weiter von sich hören lassen würde.“

Doch es kam anders: „Rushdie blieb sichtbar, blieb präsent, blieb vor allem ein Schriftsteller und kämpfte, verwandelt in ein welthistorisches Individuum, den scheinbar aussichtslosen Kampf darum, wieder das zu werden, was er eigentlich war: ein Künstler, ein Humorist, ein Sätzeschmied.“

Dank seiner Leibwächter sei Salman Rushdie am Leben geblieben, betonte Kehlmann: „Aber dank seines regelrecht unvorstellbar widerstandsfähigen Künstlertums entging er den verschwisterten Gefahren der Seelenverkümmerung und der Geistesvertrocknung, die jedem schöpferischen Menschen naturgemäß in extremer Gefahr drohen.“

Dear Salman, grandmaster, great friend, thank you for all the magic and congratulations from all my heart!

Daniel Kehlmann

Ein großer Erzähler

Für Daniel Kehlmann ist Rushdie heute „unbestritten einer der großen Erzähler der Literaturgeschichte, der vielleicht wichtigste Verteidiger der Freiheit von Kunst und Rede in unserer Zeit – vor allem aber ein weiser, neugieriger, heiterer und gütiger Mensch und somit der würdigste Träger, den es für diese Auszeichnung, die ja als Friedenspreis ausdrücklich nicht nur künstlerische, sondern auch humanistische Größe auszeichnet, überhaupt hätte geben können."

Karin Schmidt-Friderichs

Wir brauchen Vorbilder wie Salman Rushdie in einer Zeit, in der die Kettenreaktionen der Einschüchterung – sei es von religiösen Fanatikern, sei es vom Mob im Netz – Wirkung zeigen.

Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins

Von Salman Rushdie lernen

Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs und Frankfurts Oberbürgermeister Mike Josef würdigten Salman Rushdie in ihren Grußworten als Vorbild.

„Wir ehren heute einen Mann, der trotz all dem, was ihm widerfahren ist seine Stimme erhebt und für die Freiheit des Denkens und des Wortes eintritt“, so die Vorsteherin: „Einen Menschen, dem wir weise Worte und Denkanstöße verdanken. Einen Menschen, der mit seinen fiktionalen Geschichten der Realität den Spiegel vor Augen hält. Einen Menschen, von dem wir lernen können, was Mut ist.“ Auf die Frage, wie er es geschafft habe, nicht ängstlich oder bitter zu werden, antworte der Friedenspreisträger mit dem Satz: „Das wäre eine andere Art von Tod gewesen.“

„Wir brauchen Vorbilder wie Salman Rushdie in einer Zeit, in der die Kettenreaktionen der Einschüchterung – sei es von religiösen Fanatikern, sei es vom Mob im Netz – Wirkung zeigen“, so die Mainzer Verlegerin. Meinungsfreiheit und eine demokratische Verfassung seien eben keine Selbstverständlichkeit: „Lassen Sie uns an diesem geschichtsträchtigen Ort von Salman Rushdie lernen.“

Salman Rushdie hat die Werte des Paulskirchenparlaments in die Welt getragen.

Mike Josef, Frankfurter Oberbürgermeister

Genau am richtigen Ort

Für Oberbürgermeister Mike Josef ist Rushdie „genau der richtige Preisträger für diese Zeit“. Und die Paulskirche genau der richtige Ort, um ihm diese Auszeichnung zu verleihen: „Der Friedenpreis hat hier seine Heimat gefunden, weil die Paulskirche den Werten der demokratischen Bestrebungen seit 1848 ein Zuhause gibt.“

Josefs Appell: „Reden wir über Krieg und Frieden, über Freiheit und Unfreiheit. Verbieten wir uns selbst nie die Worte. Das sind wir auch unseren Kindern, unserer Demokratie und den kommenden Generationen schuldig.“ Rushdie sei ein Vorbild auf diesem Weg, denn er habe „die Werte des Paulskirchenparlaments in die Welt getragen“.

Standing Ovations für Salman Rushdie, hier mit seiner Frau, der Autorin Rachel Eliza Griffiths

Der Vielgeehrte

Für sein literarisches Schaffen und sein gesellschaftliches Engagement wurde Salman Rushdie bereits mit zahlreichen internationalen Preisen bedacht. 2007 erhob Queen Elizabeth II den Schriftsteller als „Knight Bachelor“ in den Ritterstand.

Im Frühjahr ist Rushdies Roman „Victory City“ (Penguin) in deutscher Übersetzung von Bernhard Robben erschienen. Der literarische Übersetzer, Journalist und Moderator hat auch die Friedenspreisrede von Salman Rushdie ins Deutsche übertragen. 

Die Schockerfahrung des Attentats wird Rushdie in dem Buch "Knife" ("Messer") verarbeiten, das im April 2024 herauskommt: „Etwas anderes könnte ich derzeit nicht schreiben“, so Rushdie bei einer Pressekonferenz auf der Frankfurter Buchmesse, bei der er auch gestand: „Gegen alle Vernunft bin ich Optimist.“

Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein seit 1950. Die Auszeichnung gehört zu den wichtigsten Kulturpreisen des Landes und ist mit 25.000 Euro dotiert. Mehr unter www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de und in unserem Interview mit dem Preisträger.