Eröffnungsfeier der Leipziger Buchmesse

„Wir müssen, müssen Freunde sein!“

21. März 2024
von Nils Kahlefendt

Hoher politischer Besuch, Protestaktionen, ein dringender Appell zu Freundschaft und Ehrlichkeit: Die Eröffnungsfeier der Leipziger Buchmesse.

Omri Boehm

Ob nach dem Berlinale-Skandal womöglich vor dem Buchmesse-Skandal ist, orakelte noch letzte Woche die Hamburger "Zeit"; eine Vermutung, die angesichts der herrschenden Diskurs-Kultur nicht allzu weit hergeholt klingt. Claudia Roth wird aufgeatmet haben, dass sich auf dem weiträumig abgesperrten Augustusplatz nur ein Häufchen propalästinensischer Aktivisten im niedrigen zweistelligen Bereich versammelte, das, als der Kanzler-Konvoi vorfuhr, "Blut an den Händen!" skandierte und zwei, drei Transparente entrollte. War’s das?

Bundeskanzler Olaf Scholz

Als Olaf Scholz dann im Großen Gewandhaus-Saal, nach der Begrüßung durch Leipzigs Oberbürgermeister und die Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs, zu seiner Eröffnungsrede ansetzte, wurde der Bundeskanzler von einigen im Rang verteilten Störern, die mit seiner Israelpolitik offenbar nicht konformgehen, für einige Minuten systematisch niedergebrüllt – so lange, bis das Publikum im Gewandhaus wiederum die Störer niedergeklatscht hatte und die reichlich vertretene Security ihres Amtes waltete. "Folgen wir denen nicht, die uns spalten wollen", hatte Scholz, mit Bezug zur AfD, gerade im Manuskript stehen, nahm den Satz aber routiniert mit in die hitzige Situation im Konzertsaal. Zum echten Skandal taugte die Angelegenheit nicht, wiewohl sie heute natürlich all die schönen Leipzig-Headlines, die schon im Stehsatz waren, verdirbt.

Der Scholz-Satz, den man sich heuer für jeden Buchmesse-Besucher, jede Besucherin zum Ausdrucken wünscht, geht so: "Lesen ist die täglich praktizierte Bereitschaft, die eigene Perspektive in Frage zu stellen."

Inhaltlich lieferte der Kanzler, der als ehemaliger Erster Bürgermeister Hamburgs erkennbar mit dem Gastland-Claim "Alles außer flach!" sympathisierte, eher nahrhafte Hausmannskost: Freude über den Kulturpass "in der Verlängerung", Scheinwerfer auf eine "vielfältige Verlagslandschaft von unschätzbarem Wert", allerdings ohne Erwähnung irgendeiner Struktur-Förderungs-Bazooka. Dafür mit Wumms durch eine Niederlande, die zu Spinozas Zeiten das "Verlagshaus Europas" war. Der Scholz-Satz, den man sich heuer für jeden Buchmesse-Besucher, jede Besucherin zum Ausdrucken wünscht, geht so: "Lesen ist die täglich praktizierte Bereitschaft, die eigene Perspektive in Frage zu stellen."   

Eva Illouz

Die Soziologin Eva Illouz empfahl in ihrer akademisch-konzentrierten, auf Englisch gehaltenen Laudation das Buch "Radikaler Universalismus" (Propyläen 2022), für das Omri Boehm mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2024 ausgezeichnet wird, als "Meilenstein im großen Gebäude der Philosophie" und als Quelle moralischer Klarheit "in den trüben Gewässern des zeitgenössischen politischen Lebens". Womit Illouz, mit Susan Neiman, wohl den allenthalben tobenden identitätspolitischen Furor meint. Omri Boehms Bücher "Israel – eine Utopie" (Propyläen 2020) und "Radikaler Universalismus" (Propyläen 2022) sind utopische Wagnisse. Ihre Ideen scheinen seit dem 7. Oktober 2023 weiter entfernt von irgendeiner Realisierung denn je. Doch Boehm, der mit Platon davon überzeugt ist, dass die Wirklichkeit die Welt der Ideen ist, bleibt seinem kompromisslosen Humanismus, trotz Terror, Trauer und Fanatismus, treu. Boehm ist Lehrstuhlinhaber des Fachbereichs Philosophie an der New School for Social Research in New York, nach Größen wie Agnes Heller oder Richard Bernstein. "Es ist vielleicht poetische Gerechtigkeit", so Illouz, "dass der Lehrstuhlinhaber eines Fachbereichs, der so vielen intellektuellen deutschen Juden, die vor dem Nazi-Regime flohen, Zuflucht gewährte, heute in Deutschland diese Auszeichnung erhält. Er erhält sie, weil er die drei intellektuellen Traditionen, in denen er lebt – amerikanische Verfassungswerte, kantischer Universalismus und hebräische Prophetie – so erfolgreich integriert hat."

Es ist vielleicht poetische Gerechtigkeit, dass der Lehrstuhlinhaber eines Fachbereichs, der so vielen intellektuellen deutschen Juden, die vor dem Nazi-Regime flohen, Zuflucht gewährte, heute in Deutschland diese Auszeichnung erhält.

Eva Illouz

Vor seiner – auf Deutsch vorgetragenen – Dankrede kommt Omri Boehm in einem spontanen englischen Exkurs auf die Störer vom Anfang des Abends zurück. Das öffentlich wahrgenommene Recht auf freie Meinungsäußerung, so der Philosoph, sei wesentlicher Bestandteil eines demokratischen Gemeinwesens – und dürfe nicht für selbstverständlich gehalten werden. Mit ihrem Geschrei hätten die Störer die "Institution der öffentlichen Rede" unterbrochen – und dabei ihren eigenen Idealen zuwidergehandelt. 

Es ist faszinierend zu erleben, wie Omri Boehm seine Überlegungen aus einem Philosophischen Quartett zwischen dem jüdischen Aufklärer Moses Mendelssohn und dessen Freund Gotthold Ephraim Lessing, Autor des "Nathan" einerseits, seinem zentralen Forschungsgegenstand Immanuel Kant und Hannah Arendt (die 1959 bei der Verleihung des Lessing-Preises von der "Menschlichkeit in finsteren Zeiten" sprach) anderseits entwickelt. Der Begriff der Freundschaft (Wir müssen, müssen Freunde sein, heißt es im "Nathan") ist zentral, im derzeitigen Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern von ihr zu sprechen, weiß Boehm, muss manchem falsch, ja regelrecht grotesk vorkommen. Ein No-go scheint sowohl der Versuch, den mörderischen Überfall der Hamas auf israelische Kibbutzim im vergangenen Oktober zu einem Akt "bewaffneten Widerstands" zu erklären – als auch der Versuch der israelischen Regierung, den mit Zehntausenden von Toten und einer Hungersnot verbundenen Einmarsch im Gaza-Streifen als reine "Selbstverteidigung" hinzustellen.

Es kann keine deutsch-jüdische Freundschaft geben, wenn sie in diesen dunklen Zeiten kein Platz für die schwierigen Wahrheiten hat, die im Namen der jüdisch-palästinensischen Freundschaft gesagt werden müssen.

Omri Boehm

Und was ist mit der deutsch-jüdischen Freundschaft? "Da, wo sie besteht, ist sie ein wahres Wunder", sagt Boehm. Aber dieses Wunder müsse jetzt vor Entwertung geschützt werden: "Es kann keine deutsch-jüdische Freundschaft geben, wenn sie in diesen dunklen Zeiten kein Platz für die schwierigen Wahrheiten hat, die im Namen der jüdisch-palästinensischen Freundschaft gesagt werden müssen." Das klang dann nicht nach der "Staatsräson" aktuell regierungsamtlicher Bauart.

Eine friedliche, ruhige Protestaktion im Gewandhaus: Besucher:innen halten nach einleitenden Worten von Buchmessedirektorin Astrid Böhmisch und Peter Kraus vom Cleff (Börsenverein) Plakate in die Höhe: "Demokratie wählen. Jetzt." 

Und sonst? Burkhard Jung, Leipzigs OBM in der dritten Amtszeit, ist in der Disziplin der locker-quirligen, irgendwie mitreißenden Fünfminutenrede immer noch König: Das Amsterdamer Concertgebouw, abgekupfert vom 1884 eröffneten alten Leipziger Gewandhaus, na klar! Dafür "Leipzig liest" das quasi Boekenweekgeschenk an der Pleiße. Und wenn Jung sich schon jetzt auf das Fußball-EM-Spiel Niederlande – Frankreich freut, bei dem sich wieder 40.000 Oranjes mit den orangen Kollegen der Leipziger Stadtreinigung verbrüdern, sehnt man den 21. Juni regelrecht herbei. Sommermärchen! Jung war es auch, der nach all der anwesenden Prominenz einen Abwesenden grüßte, Oliver Zille, den ehemaligen Buchmesse-Direktor ("ich hoffe, er hört den Beifall"), der sich am Tag der Buchmesse-Eröffnung via "Zeit Online" mit seiner Sicht auf die letzten Messejahre meldete. Die Zeiten, da zwischen zwei Reden lediglich das Wasserglas am Pult ausgetauscht wurde, und man es einfach aushielt, wenn jemand auf knarzender Treppe auf die Bühne turnte, es im Saal ein wenig unruhig wurde, scheinen endgültig passé. Events verlangen nach Moderation (von lateinisch moderare: mäßigen, steuern, lenken), schon klar – und die drei Ministerpräsidenten Mark Rutte (Niederlande), Jan Jambon (Flandern, aktuell Chef des Europäischen Kulturrats) und Michael Kretschmer (Sachsen) ergaben sich tapfer in ihr Schicksal, auf Nachmittagsprogramm-Fragen wie "Wo lesen Sie am liebsten?" antworten zu sollen. Nur "der Mann, der es heute nicht ganz so weit hatte" knurrte auf die bohrende Nachfrage "Sie lesen auch in Grundschulen?" ein "Dafür reicht’s noch!" zurück. Mark Rutte revanchierte sich mit einem formvollendeten "Zauberberg"-Privatissimum auf offener Bühne. Man kann binnen Sekunden googeln, dass die Orgel des Gewandhauses über 6.845 fest verbaute Pfeifen verfügt – einer Buchmesse-Eröffnung den richtigen dramaturgischen Zuschnitt zu geben, braucht etwas länger.

Die Ministerpräsidenten Jan Jambon (Flandern, aktuell Chef des Europäischen Kulturrats), Mark Rutte (Niederlande) und Michael Kretschmer (Sachsen) 

Zum Glück gab aber auch noch die großartige Anna Rakitina, der gegenwärtig zwischen Boston und Los Angeles die Herzen zufliegen, und die hier das Gewandhausorchester zu Höchstleistungen trieb. Und es gab das niederländische Ragazze Quartett, dem man gern länger gelauscht hätte – und das – kleine Wünsche gehen in Leipzig sofort in Erfüllung, nur Wunder dauern etwas länger! – auch kann: Schon heute, am Messedonnerstag, spielen die vier ihr Programm "They Have Waited Long Enough" im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses. Es geht um Medea, Circe und Penelope, um, klar: Frauen-Power.

Draußen auf dem Augustusplatz ist es gegen Mitternacht noch immer warm, man kann am Rad zum GfZK-Café fahren, wo Voland & Quist den Reigen der Partys eröffnet. In der Schaubühne Lindenfels trifft man vielleicht noch Lisa Weeda ("Tanz, tanz, Revolution", Kanon) und Dimitri Kapitelman ("Eine Formalie in Kiew", Hanser), deren beider Wurzeln in der Ukraine liegen. Reden über ein Leben zwischen West und Ost, Frieden und Krieg. Wieviel Freiheit wird man in den nächsten vier Tagen abweichenden Positionen zugestehen? Wird gebrüllt werden, mit Schaum vorm Mund? Schauen wir mal.

Es ist Buchmesse.