Nachruf auf Günter Grass

"Er hat die Republik bewohnbarer gemacht"

14. April 2015
von Börsenblatt
Zum Tod eines uneitlen Autors, den Tabuzonen geradezu reizten: Der Verleger Klaus Wagenbach über seinen Freund und Weggefährten Günter Grass.

"Wir haben uns Ende der fünfziger Jahre kennengelernt und wurden trotz aller Unterschiede – Grass war Autodidakt und kam aus einer kleinbürgerlichen Nazifamilie, ich kam aus einer bürgerlichen Antinazifamilie und war Germanist, eine Profession, der Grass bekanntlich nicht zugetan ist – bald enge Freunde. Der Grund war sehr einfach: Wir waren weder mit dem damaligen Literaturkanon noch mit dem damaligen Zustand der Bundesrepublik einverstanden. Außerdem waren wir Pilzsammler.

Ich könnte also erzählen, wie wir in die mageren Westberliner Wälder zogen, ohne Frauen, aber mit fünf Kindern, die Grass entgegenkommenden Pilzsammlern stets mit den Worten vorstellte: »Haben wir alle gemeinsam gemacht«. Oder wie ich, als Lektor eines ganz anderen Verlages, die Hundejahre, die mir zu umfangreich schienen, um einige Kapitel kürzte, was er akzeptierte (ein besonders eitler Autor war Grass nicht). Aber in der Widmung der Hundejahre heißt es dann doch: »Für die fehlenden Kapitel ist der Setzer verantwortlich.«

Ich erzähle aber was anderes. Die Geschichte beginnt in den sechziger Jahren auf einer Terrasse in Vira im Tessin beim ausgiebigen Skatspiel. Darin war Grass Meister und konnte sich auf diese Weise beiläufig für meine Kritik an seiner Kochkunst rächen. An diesen Abenden entstand das Projekt einer kurzen Biographie; in meinen Notizen findet sich die genaue Beschreibung des Wegs von Grass in den letzten Kriegsmonaten: Vom Freiwilligen, der (wie die meisten Danziger) zur Marine wollte, die es nicht mehr gab, sodass man ihn, 17 Jahre alt, der Waffen-SS zuteilte, 17 Jahre alt, als Kanonenfutter. Wären die Notizen 1964 als Buch erschienen, hätten wir nicht nur von einem überzeugten Hitlerjungen erfahren, der zur Marine will und in die SS gestopft wird. Wir hätten von einem Schüler erfahren, der nächtelang Geschichtstabellen verfasste, als Versuch, gegenüber der ausschließlich gelehrten deutschen Geschichte historische Proportionen zurückzugewinnen.

Wir wüssten mehr von seiner ihn prägenden Heimatstadt Danzig, einer Hochburg der Nazis, denen sich sogar der feinsinnige Völkerbundkommissar Carl Jacob Burckhardt anbiederte. Wir könnten den abenteuerlichen Lektüren des Schülers folgen, beginnend mit Schenzinger, Thiess, Dominik, Freytag und Dahn, denen dann in der Nachkriegszeit dermaßen viele Autoren und Bücher folgten, dass sie fast ein ganzes Blatt meiner Notizen füllten, von Lorca, Eluard und Apollinaire bis Faulkner, Kafka und Vittorinis Gespräch in Sizilien. Ausgeliehen in Caritasheimen, bei Bekannten, in Klosterbibliotheken von einem allein, immer noch in ungefärbten Militärklamotten durch Westdeutschland reisenden 19-Jjährigen auf der Suche nach seinen Eltern, die er erst zwei Jahre nach Kriegsende wiederfand. Wir hätten einen 19-Jährigen vor Augen, der 1946/47 Burbach Kali AG, Werk Siegfried Großgiesen zum ersten Mal Diskussionen zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitern ebenso zuhört wie den Reden Kurt Schumachers, auch wenn ihm diese zu laut waren. Kurz: jemanden, der sich in der Kinderstube der Republik zurechtzufinden versucht.

Aber diese Kinderstube roch nach Turnhalle und Besserungsanstalt. Da boten die 1951 ausgestellten Reisepässe die erste Möglichkeit, das Land zu verlassen und Günter Grass machte, wie viele andere junge Leute, sofort davon Gebrauch. Wie er es allerdings geschafft hat, mit der allgemeinen Kopfquote von 300 D-Mark vier Monate in Italien zu bleiben, habe ich immer bewundert, allerdings konnte er sich als Maler noch einen kleinen Nebenverdienst verschaffen, mit einer Leuchtschriftreklame für Butangas.

Das Deutschland, in das Grass zurückkam, nannte er später »die fünfziger Jahre der Persilscheine«. Nirgends Täter, überall Mitläufer. Eine Gesellschaft zwischen Waschzwang und Erziehungsfuror, mit der fatalen Sehnsucht nach Geborgenheit und einer Ordnung, die sich gegenüber freien Köpfen sofort als Bevormundung demaskierte.

 

So gab es immer noch die, wie sie Grass nannte, »Schummelwörter«. Bei den Altnazis hießen sie das »Entsetzliche« oder »Höllenspuk«, in der Politik »Schicksal«, in der Literatur das »Unfassbare«, in der Germanistik das »Numinose«. Die erfolgreichste Anthologie der fünfziger Jahre hieß »Ergriffenes Dasein«. Viel Ergriffenheit, wenig Begreifen.

 

Das Erscheinen der Blechtrommel im Herbst 1959 war dann ein Epochenbruch. Junge Kritiker wie Walter Jens oder Hans Magnus Enzensberger begrüßten das Buch mit ausführlichen Rezensionen, ältere Kritiker antworteten mit herben Verrissen, wie etwa der Satiriker der FAZ, der allerdings Gerd Gaiser für den bedeutendsten Nachkriegsschriftsteller hielt. Der Erfolg war dennoch außerordentlich. Die Leser stürmten die Buchhandlungen, um ein Buch zu erwerben, das in Anlage und Wirkung eine »Aufforderung zum großen Mundaufmachen« war – dies der Titel eines Gedichts aus derselben Zeit:

 

Wer jene Fäulnis,

die lange hinter der Zahnpaste lebte,

freigeben, ausatmen will,

muß seinen Mund aufmachen

 

Hier schrieb der Autor, den Tabuzonen geradezu reizten, weil er ihnen, ganz zu Recht, auch die Gründe für die Wunde seines jugendlichen Irrtums vermutete. Seine Fragen waren die Fragen junger Leute: Was wird uns verschwiegen? Warum werden wir gegängelt?

Es ist deswegen irrig, den jungen Grass für »unpolitisch« zu halten. Die Blechtrommel selbst ist ja ein durch und durch politisches Buch. Dass ihr Autor an der öffentlichen politischen Diskussion teilnahm, zeigte sich schon wenige Monate später, mit seiner ersten Unterschrift unter ein Manifest. Es handelte sich um eine Solidaritätserklärung für 121 französische Intellektuelle, die zur Desertion im Algerienkrieg aufgefordert hatten. In Deutschland wurde daraus ein Skandal gemacht, angeführt vom seinerzeitigen Literaturpapst Sieburg, der den »keineswegs repräsentativen« Unterzeichnern empfahl, zu diesem Streit »in einem anderen Land« den Mund zu halten. Grass kannte aber die blutigen Razzien der Pariser Polizei gegen die Algerier aus eigener Anschauung und machte den Mund auf.

 

Leider haben Günter und ich uns 1972 furchtbar zerstritten, er als unverbesserlicher Sozialdemokrat und ich als unverbesserlicher Anarchist. Wir kamen erst 1989 wieder zusammen, aus einem ganz pragmatischen Anlass – ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die außerordentliche Zivilcourage des damals schon über 60-Jährigen. Es ging um das Buch „Die satanischen Verse“ und seinen Autor, Salman Rushdie, der von Ayatollah Khomeini zum Tode verurteilt worden war. Das Buch wagte niemand zu veröffentlichen, und so begannen Michael Naumann vom Rowohlt Verlag und ich bei Kollegen für eine Gemeinschaftsausgabe deutscher Verlage zu werben. Ich versage es mir, die Ausreden, die wir hörten, zu berichten. Ganz zu schweigen von den Ausreden unserer tapferen deutschen Presse, die sich, zur Veröffentlichung von Exzerpten aus dem Buch aufgefordert, auf das Copyright-Argument zurückzog: man könne nicht unautorisierte Texte abdrucken. Die Wahrheit kam freilich mit dem Erscheinen der Gemeinschaftsausgabe ans Licht – in ihr fehlen sämtliche Tageszeitungen als Herausgeber, mit der großen und ehrenvollen Ausnahme der taz. Wie überhaupt die Namensliste der Herausgeber auf den ersten Seiten dieser Gemeinschaftsausgabe auch als Liste der Schande gelesen werden kann.

Für diese Liste hatte auch Günter Grass viele Autoren geworben und plante eine öffentliche Lesung an der Berliner Akademie der Künste. Sie wurde abgelehnt und wir fanden schließlich einen Gasthaussaal in der Hasenheide. Zur Veranstaltung fanden wir ihn überfüllt vor, auch mit ziemlich ungemütlichen Leuten. Als wir, mit einigen Kollegen, als günstige Zielscheiben auf dem Podium saßen, sah ich auch, zum ersten Mal in meinem Leben mit Wohlwollen, zahlreiche Polizisten.

Günter aber, als sei nichts, begann aus den Mitternachtskindern zu lesen und gewann schließlich fast den gesamten Saal als Zuhörer, ein bewundernswertes Schauspiel.

Ich füge nichts weiter hinzu als: Günter Grass hat die Bundesrepublik ziviler, freier und demokratischer gemacht, kurz: bewohnbarer."

Der Text basiert auf einer Rede von Klaus Wagenbach zum 80. Geburtstag von Günter Grass