Thementrend Kinder-und Jugendliteratur

Ideal oder Ideologie?

25. März 2017
von Nicola Bardola
Eine Gesellschaft voller Vielfalt ist auch unübersichtlich - eine Podiumsdiskussion in Leipzig beschäftigte sich deshalb mit der Frage, ob die Kinder- und Jugendliteratur die zunehmende Offenheit gegenüber unterschiedlichen Familien- und Rollenmodellen angemessen abbildet.

"Vater, Mutter, Kind: Brauchen wir mehr Vielfalt in Kinder- und Jugendbüchern?" lautete die von der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (avj), dem Arbeitskreis für Jugendliteratur (AKJ), dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der Stiftung Lesen im Rahmen des "Trendberichts Kinder- und Jugendbuch 2017" gestellten Frage. In vorab veröffentlichten Presseinformationen äußerten sich die Verantwortlichen der vier Verbände. Es ist wichtig, dass sich Verlage mit gesellschaftlichen Veränderungen auseinandersetzen (Susanne Helene Becker, AKJ), dass die Lebensumstände aller Kinder ernst genommen und abgebildet werden (Jörg F. Maas, Stiftung Lesen) und dass Veränderungen in Familienkonstellationen in vielfältiger Weise in Publikationen für alle Altersgruppen - vom Bilderbuch bis zum Jugendroman - dargestellt werden (Renate Reichstein, avj). Der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Heinrich Riethmüller, sagte: "In Buchhandlungen können Kinder und Eltern Vielfalt entdecken und durch die fachkundige Beratung auf Werke jenseits der klassischen Jungen- und Mädchen-Titel aufmerksam gemacht werden."

Auf dem Podium diskutierten Experten Beispiele aus der Praxis. Sie stellten sich der Frage, wie es heute mit der gesellschaftlichen Realität in der Kinder- und Jugendliteratur aussieht. Birgit Schollmeyer, Gründerin der Buchhandlung Bücherwurm in Braunschweig, findet die Situation "gar nicht schlecht". Es gebe viele Titel, die sich auch auf gewagte Weise mit Gender-Themen und besonderen Familienkonstellationen auseinandersetzten. Aber sie stellt auch einen Mangel fest. Schollmeyer bekommt viele Anfragen von Kinderkrippen und Kindergärten, die sich mehr Bilderbücher wünschen, in denen auch Menschen aus anderen Kulturkreisen vorkommen. "Ich denke, das gehört zur gesellschaftlichen Veränderung dazu. In ländlichen Gebieten ist das dann sicher schwieriger zu vermitteln als beispielsweise in Berlin. Da sieht man ja, wie es gelebt wird."

Monika von der Lippe, Gleichstellungsbeauftragte des Landes Brandenburg, beobachtet zwei große Trends, die gleichzeitig stattfinden: Auf den Bestsellerlisten macht sie rosa Glitzerbücher für Prinzessinnen und Piratenbücher für Jungs aus, andererseits entdeckt sie engagierte Literatur eher aus Kleinverlagen, in der Regenbogen- und Patchworkfamilien thematisiert werden. "Es gibt ja beides und unsere Aufgabe ist es, das zu kommunizieren. Ein Rückschritt muss vermieden werden. Die Vielfalt, die es in der Gesellschaft tatsächlich gibt, sollte weiterhin auch in den Kinder- und Jugendbüchern thematisiert werden. Und wir sollten gute und durchdachte Bücher zu diesen Themen entsprechend bewerten und vermitteln", so von der Lippe und fordert insbesondere für Bilderbücher: "Je früher ich anfange, Dinge zu zeigen, ohne sie zu benennen, desto schneller entsteht bei den Kindern eine Selbstverständlichkeit für unterschiedliche Lebensformen."

Der Germanist und Literaturkritiker Ralf Schweikart, Mitglied zahlreicher Jurys zur Bewertung von Kinderliteratur, kritisiert, dass Autoren oft ihre Ideologie zum Ausdruck bringen. "Es gibt zu viele gut gedachte, aber nicht gut gemachte Bücher. Das ist ein Grundproblem, dass man die Botschaft über die Geschichte stellt. Unsere Aufgabe ist es, zu prüfen, ob eine Erzählung funktioniert, oder ob das nur verpackte Didaktik, Pädagogik oder Ideologie ist. Der Blick aufs Ideologische verstellt zurzeit zu oft die Achtsamkeit für die Fragen, wie Geschichten erzählt und wie Bilderbücher gemacht werden", so Schweikart.

Die Autorin Anne C. Voorhoeve denkt beim Schreiben weder über das Zielpublikum noch über eine Botschaft nach. "Mich müssen erstmal die Figuren inspirieren. Das Thema ergibt sich manchmal erst während des Erzählens." Manchmal entdeckt Voorhoeve aber auch Themen, die sie von Anfang an fesseln, wie das Nestmodell, bei dem Scheidungskinder in einer Wohnung leben und die Eltern ein- und ausziehen.

Angeregt diskutierte das Podium über zahlreiche Einzeltitel, insbesondere über die Transgendergeschichte "George" von Alex Gino (S. Fischer). Schollmeyer hatte das für Kinder ab neun Jahren empfohlene Buch einigen auch älteren Testlesern gegeben: "Alle haben es abgelehnt. Hier stellt sich die Frage: Wer ist die Zielgruppe? Ist 'George' für uns Erwachsene geschrieben, damit wir diese Thematik nach vorne bringen?" fragte Schollmeyer und wurde in ihrer Kritik von Schweikart bestärkt, der als weiteres Beispiel "Teddy Tilly" anführte, ein Bilderbuch, worin das Thema Transgender schon für Kinder ab vier Jahren im Mittelpunkt steht. Für Kindergartenkinder ist aber das Thema Transgender wahnsinnig weit weg", erklärte Schweikart.

Abschließend stellte Moderatorin Christine Knödler gemeinsam mit ihren Gästen fest, dass es immer weniger Tabuthemen in der Kinder- und Jugendliteratur gibt, dass es an Vielfalt nicht mangelt, aber oft an der erzählerischen Qualität, und das Weltbild von Autoren und Verleger das Buchthema prägt. So kamen auch das Wirtschaftsdenken der Buchhandlungen und Verlage und der Preis "Goldener Zaunpfahl 2017" als negative Auszeichnung für Sexismus zur Sprache, der vor kurzem an den Schulbuchverlag Klett ging.

"Ich habe gelernt, dass die Schule oft in Stereotypen denkt. Hört auf, Kinder in Schubladen zu stecken und nehmt sie endlich so, wie sie sind, egal ob Junge oder Mädchen, egal welches Kleid sie tragen. Meine Tochter springt im Kleid in den Matsch. Mädchen, die in Pfützen springen, haben blaue Gummistiefel an? Nein!", kam das Schlusswort aus dem Publikum.