Zur politischen Lage in der Türkei

Atmosphäre der Angst

31. August 2016
von Börsenblatt
Die Meinungsfreiheit wird in der Türkei schon lange massiv eingeschränkt. Autoren und Verleger über ein Land, in dem die Furcht zum Alltag gehört – vor Bomben und vor Repressalien.

Mir geht es noch gut, aber ich weiß natürlich nicht, was morgen passieren wird. Es ist beklemmend – besonders nach der Militäroperation in Syrien. Es heißt, dass es sehr viele IS-Kämpfer in der Türkei geben soll. Wir wissen nicht, wann und wo die nächste Bombe explodieren wird.« Die Schriftstellerin Esmahan Aykol, die ihre Krimis bei Diogenes publiziert (zuletzt: »Istanbul Tango«), beschreibt eine vertrackte Situation: Da ist nicht nur die autokratische Regierung Erdoğan, die willkürlich Menschen verhaftet und ins Gefängnis wirft, Intellektuelle verfolgt, Verlage und Redak­tionen schließt – sondern da sind auch die Bomben des IS und der kurdischen PKK. Im Osten der Türkei gehört der Terror schon lange zum Alltag, jetzt ist er auch nach Istanbul gekommen.

Esmahan Aykol lebte bis zu den Gezi-Protesten 14 Jahre lang in Berlin. Sie hat einen deutschen Pass. Aber sie wollte zurück in das Land ihrer Herkunft: »Bis 2013 bin ich immer gependelt. Nachdem ich gesehen habe, was rund um den Gezi-Park geschehen ist, habe ich mich jedoch entschieden, nicht mehr zurück nach Deutschland zu gehen. Ich mag zwar die deutsche Staatsbürgerschaft haben, aber ich bin eine türkische Schriftstellerin, ich schreibe auf Türkisch. Und die Stadt Istanbul und ihre Menschen sind Teil meiner Romane. Ich wollte da sein und sie erleben.«

Ihr deutscher Pass schützt sie, schließlich kann sie jederzeit zurück nach Deutschland: »Das ist ein großer Vorteil für mich. Meine Freunde ermahnen mich immer wieder, dass ich nicht so offen über Politik reden soll, aber ich fühle eine Verantwortung für dieses Land.«

Traurige Fortsetzung 

Für viele Kenner der türkischen Verhältnisse sind die auf den jüngsten Militärputsch folgende Verhaftungswelle und die unverhohlene Gewalt gegen jegliche Opposition weder neu noch überraschend, sondern bloß die traurige Fortsetzung repressiver türkischer Regierungspolitik. »Ich bin immer wieder erstaunt über die besorgten Fragen von Journalisten. Für mich ist es nicht ungewöhnlich, was gerade in der Türkei passiert«, sagt etwa Selim Özdoğan.

Der in Köln geborene und dort lebende türkischstämmige Schriftsteller (»Wieso Heimat, ich wohne zur Miete«, Haymon) begreift sich selbst als distanzierter Beobachter – wenngleich er gerade von einem neuerlichen Aufenthalt in der Türkei zurück ist. »Es gab schon immer Anklagen, Verhaftungen bei Menschen, die Erdoğan kritisiert haben«, sagt er und nennt als Beispiel den Soziologen Erol Özkoray, der zu acht Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden sei, einzig wegen eines Buchs, in dem er Graffitis zitiert hat, die während der Gezi-Proteste an den Wänden standen.

»Ich nehme es nicht so wahr, dass sich nach dem Putschversuch für Künstler und Intellektuelle viel geändert hat«, bekräftigt Özdoğan. »Es ist die gleiche Schraube, die immer weiter gedreht wurde, und die jetzt möglicherweise am Anschlag festsitzt. Schon im vergangenen Jahr habe ich gedacht, dass es nicht viel schlimmer werden kann, jetzt wird es noch schlimmer. Aber es ist nur eine graduelle Steigerung.« Als Selim Özdoğan in der zweiten Jahreshälfte 2014 längere Zeit in Istanbul lebte, war er trotzdem überrascht von der Atmosphäre der Angst, einer um sich greifenden Hemmung, über die Zustände im Land zu reden. Mittlerweile habe es so viele Verhaftungen gegeben, dass die Angst überall in der Gesellschaft virulent sei: »Jeder kennt jemanden, der verhaftet wurde.«

Massive Polizeipräsenz 

Ähnlich hat es der Dichter und Literaturkritiker Nico Bleutge erlebt, der zweimal längere Zeit als Stipendiat in der Türkei war, zuletzt in diesem Frühjahr. »Schon nach den Gezi-Park-Protesten wurden Intellektuelle massiv verfolgt und sind einfach verschwunden.« Atmosphärisch habe sich bereits damals viel verändert. Die Polizei sei seitdem allgegenwärtig im öffent­lichen Leben des Landes. »Wenn es auch nur den Anschein einer Diskussions- oder Protestrunde gab, wurde diese sofort aufgelöst. Diese massive Präsenz ist jetzt lediglich noch sichtbarer geworden.«

Nico Bleutge hat die Brutalität verfolgt, mit der gegen Demonstranten vorgegangen wurde, und er erlebte danach, wie die Selbstzensur die Kommunikation verändert hat: »Man überlegt sehr stark, was man sagt. Es ist kompliziert geworden, über E-Mail zu kommunizieren. Viele Kanäle werden überwacht. Am entspanntesten ist es noch, wenn man sich auf einen Kaffee trifft.«


Brandbeschleuniger 

Hoffnung auf Besserung gibt es kaum. Erdoğan regiert als Autokrat. Den Putsch hat seine Regierung als »Geschenk« bezeichnet. Denn er eröffnet ihm die Möglichkeit, alle mundtot zu machen, die ihm einmal in die Quere gekommen sind. Für Nico Bleutge wirkt der Putsch indes nur als ein Beschleuniger: »Jetzt geschieht innerhalb kurzer Zeit, was sonst vielleicht ein halbes Jahr länger gedauert hätte.« Die repressiven Strukturen, die mittlerweile so deutlich hervortreten, reichten weit in Geschichte der Türkei zurück. »Viele Menschen hier haben Militär­diktaturen miterlebt, dadurch wurde die Wahrnehmung der Welt stark geprägt und auch die Literatur, die vielfach hochgradig politisch ausgerichtet ist. Es gibt ein starkes Bewusstsein für politische, ­soziale, historische Verwerfungen«, sagt Nico Bleutge.

Tatsächlich scheint es nur zu verständlich zu sein, dass sich viele Autoren mit der Repression, die sie tagtäglich erleben und die das eigene Dasein bedroht, auseinandersetzen. In der Türkei macht sie das schon immer zu Gefährdeten und Verfolgten. »Die türkischen Autoren und Journalisten stehen ja seit Jahrzehnten immer wieder mit einem Fuß im Ge­fängnis, wenn sie in der Kurden- und Armenier­frage gegen die offizielle Politik anschreiben«, sagt Lucien Leitess. In seinem Zürcher Unionsverlag erscheinen auch die Bücher der unlängst verhafteten Asli Erdoğan. Ihr Vergehen: Sie hat Kolumnen für die kurdische Tageszeitung »Özgür Gündem« geschrieben. Vor dem Haftrichter verlas der Staatsanwalt die Zeitungstexte. Das genügte für die Ein­leitung eines Gerichtsverfahrens.

Asli Erdoğan ist im berüchtigten Basinköy-Frauengefängnis in Einzelhaft, wo ihr Medikamente und der Hofgang verweigert werden. Kontakte zur Außenwelt sind ihr nur über die Anwälte möglich. Die Willkür der türkischen Staatsmacht scheint nahezu grenzenlos. Aber der internationale Druck wächst: Eine Petition gegen ihre Verhaftung auf change.org zählt mittlerweile mehr als 28.000 Unterstützer (Stand: 31. August, 12.15 Uhr); Erstunterzeichner sind nahezu alle namhaften türkischen Schriftsteller. Leitess beklagt indes: »Auch andere Autoren sind im Ungewissen. Lesereisen, die seit Langem geplant waren, sind gefährdet, weil nicht klar ist, ob sie überhaupt ausreisen können. Es ist bestürzend, dass dieses europäische Nachbarland wieder in Zustände zurückfällt, die wir alle schon überwunden hofften.«


Der Schriftsteller Moritz Rinke war in Antalya Augenzeuge, als sich die türkischen Putschisten erhoben. Auch jetzt ist er in dem Herkunftsort seiner Frau und schreibt an einem Theaterstück. »Das Land ist gespalten in ›richtige‹ und ›falsche‹ Demokraten. Wer zu welcher Gruppe gehört, das bestimmt Erdoğan«, sagt er. »Diese Spaltung kann man überall spüren. Viele Menschen reden nicht mehr miteinander oder sparen die Politik in ihren Gesprächen aus, auch in Familien, weil es zu Streit führt.«
 
Ohne Schutz 

Öffentlich traue sich ohnehin kaum jemand mehr auszusprechen, was er denkt. Denunziationen würden ganz offiziell eingefordert: »Es gibt eine von der Regierung eingerichtete Adresse, bei der Leute Auffälligkeiten per E-Mail melden können. Man muss sich daher sehr genau überlegen, was man über Facebook postet.« Rinke sieht das Land auf dem Weg zu einem totalen Überwachungsstaat. Die Türkei sei zwar immer gut darin gewesen, Feinde zu haben und neue zu kreieren. Aber mit dem Ausnahmezustand nach dem Putsch wurde, so glaubt er, eine neue Qualität erreicht. »Jeder weiß, dass er relativ schnell verhaftet werden kann – alle, die der Regierung kritisch gegenüber­stehen. Man verschwindet für 30 Tage – ohne irgendeine Begründung.«

Die Menschen fühlten sich gänzlich ungeschützt, die Hoffnung vor allem der jungen, nach Europa strebenden Generation, dass sich etwas ändert, hätten viele begraben. Das Leben in der Türkei sei somit noch perspektivloser geworden. »Die Gezi-Gesellschaft steckt in einem Dilemma. Die Polizei darf mit scharfer Munition auf Demonstranten schießen. Da traut sich keiner mehr, auf den Taksim-Platz zu gehen. Und wer nicht von der Polizei niedergemacht wird, den attackieren Zivilisten, Anhänger des Präsidenten«, meint Rinke.


Fragen im Kopf 

Esmahan Aykol möchte die Hoffnung trotz allem nicht aufgeben: »Die Menschen, die Erdoğan unterstützen, haben auch Fragen im Kopf – nach dem Putsch, nach dem neu begonnenen Krieg. Es sterben jeden Tag Menschen. Ich glaube, sogar Erdoğan-Unterstützer fragen sich, ob das Land wirklich gut regiert wird. Erdoğan beeinflusst zwar fast 90 Prozent der Medien, aber viele Menschen denken mittlerweile genauer darüber nach, in welche Richtung sich die Türkei ent­wickelt.«

Vieles spricht jedoch dafür, dass sich das Land noch weiter spaltet und radikalisiert. »In Gezi-Zeiten sah der Schaden noch reparabel aus, jetzt ist er irreparabel. Die nächsten Jahre wird es keine Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Kunstfreiheit geben in der Türkei«, prophezeit Selim Özdoğan – und fügt hinzu: »Andererseits ist die Türkei schon immer ein extrem instabiles, problematisches Land, das Unterste kann hier jederzeit nach oben gekehrt werden, man weiß nie, was passieren wird.«

Die Ungewissheit als Hoffnungsschimmer – das erscheint als eine fast schon verzweifelte Perspektive.

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