Wie sich Verlage der Aufklärung verpflichtet sehen

Neue Denkmuster

20. Dezember 2018
von Börsenblatt
Aufklärung tut not in einer Zeit, in der die Wahrheit zur Disposition steht und die offene Gesellschaft durch autoritäre Tendenzen gefährdet ist. Im 21. Jahrhundert bedeutet sie zugleich, das Naturverhältnis neu zu ordnen und den Gefahren von Digitalisierung und Biotechnik zu begegnen. Autoren und Verlage leisten dazu einen unentbehrlichen Beitrag.

Die Epoche der Aufklärung brachte nicht nur große Denker wie Voltaire, Kant, Lessing und Nicolai hervor, sondern auch Verlage, die sich dem aufklärerischen Denken verschrieben oder im Zeitalter der Aufklärung gegründet wurden. Bereits 1713 rief der Vater des Berliner Aufklärers Friedrich Nicolai den Nicolai Verlag ins Leben, 1763 war das Gründungsjahr des Münchner Verlags C. H. Beck.

Heute, angesichts einer gesellschaftlichen Transformation, in der es keinen Konsens über Tatsachen und Wahrheitswerte mehr zu geben scheint, bedeutet Aufklärung, die politischen und recht­lichen Errungenschaften zu verteidigen und weiterzudenken. Ein großer Entwurf sollte das gar nicht sein, sondern eine Vielzahl von Bausteinen und Projekten, die einem gemeinsamen Ziel verpflichtet sind. Die Utopien, die das 20. Jahrhundert beherrschten, endeten meist tödlich, wie der Sozialpsychologe Harald Welzer sagt.

Doch wie stellen sich deutsche Verlage beim Thema Aufklärung und Utopie mit seinen zahlreichen Facetten auf? Welche Autoren und Bücher planen sie in ihre Programme ein?

Ein Verlag, der sich in besonderer Weise der Epoche der Aufklärung und ihres Erbes annimmt, ist der Wallstein Verlag in Göttingen. Gerade erst hat der Münchner Literaturwissenschaftler und Spezialist für die Frühe Neuzeit, Friedrich Vollhardt, im Verlag eine Werkbiografie des Hauptvertreters der deutschen Aufklärung, Gotthold Ephraim Lessing, vorgelegt ("Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk", 490 S., 29,90 Euro). Vollhardt zeigt in seiner Maßstäbe setzenden Darstellung, dass Lessings Denken mehr dem Späthumanismus als dem Subjekt- und Freiheitsbegriff der Weimarer Klassik verpflichtet war. Prägend für Lessings Werk war aber der Toleranzgedanke, der die Menschen bis auf den heutigen Tag herausfordert.

Für Wallstein-Verleger Thedel von Wallmoden ist die Aufklärung keineswegs his­torisch: "Heutige Leser spricht sie intimer an als andere Epochen – und dies trotz des zeitlichen Abstands, den wir nicht nivellieren können." Abstrahiere man vom Epochenkontext, handele es sich bei der Aufklärung um eine grundsätzliche Denkbewegung – den "freien Gebrauch der Verstandeskräfte" –, die auch heute von übergeordneter Gültigkeit und höchster Aktualität ist. Das wird im März 2019 ein Buch des amerikanischen Literaturwissenschaftlers und Autors Robert Cohen ("Abwendbarer Abstieg der Vereinig­ten Staaten unter Donald Trump. Das New Yorker Tagebuch", Wallstein, März 2019, ca. 260 S., ca. 18 Euro) zeigen.

Cohen hat seit November 2016 in chronologischer Folge Tweets, Erklärungen und Widerrufe des 45. US-Präsidenten gesammelt und zeigt in seinem New Yorker Tagebuch, wie Trump täglich lügt, Aussagen relativiert oder behauptet, bestimmte Sätze nie geäußert zu haben. Es entsteht das verstörende Bild einer US-Administration, die sich permanent widerspricht, mit "Fake News"-Vorwürfen um sich wirft und in der die Wahrheit nicht über den Tag hinaus Bestand hat. "Cohens Buch zeigt, was Aufklärung heute zu leisten vermag – in der radikalen Anwendung von Verstandesbegriffen auf politische Aussagen", so von Wallmoden. Die Trump-Chronik mache zudem bewusst, wie wichtig ein Minimum an (historischem) Gedächtnis für eine politische Kultur sei.

Mit seinem historischen, gesellschaftspolitischen und literarischen Programm ist auch der Verlag C. H. Beck in der Aufklärung verwurzelt. Für Cheflektor Detlef Felken ist das, was sie wollte, "den Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, wie Kant es formulierte, ein zeitloses Projekt, das sich jede Generation wieder neu aneignen muss". Da die Welt seit den Tagen Kants aber immer komplexer und unübersichtlicher geworden sei, hätten die "Zumutungen an das Selberdenken unendlich zugenommen".

Großbaustellen der Aufklärung im 21. Jahrhundert seien Globalisierung, Klimawandel und Digitalisierung, so Felken. "Hinzu kommt die enorme Dynamik, die wir in den Biowissenschaften erleben, die immer tiefer in den Bauplan des Menschen eingreifen und damit gesellschaftliche und ethische Fragen aufwerfen, deren Beantwortung außerordentlich schwierig ist." Und es bestehe da durchaus die Gefahr, dass der Mensch der Dynamik nicht mehr Herr werde.

Während die Geschichte unverändert die Kernkompetenz im Sachbuchprogramm von C. H. Beck darstelle, spiegele sich darin heute deutlich die Gegenwart – etwa in der Globalgeschichte, in der Bestandsaufnahme des Kapitalismus oder in der Beschäftigung mit dem Islam und seiner historischen Entwicklung. Auch das für Frühjahr angekün­digte Buch des Potsdamer Europageschichtlers Frank Bösch "Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann" gehört in diesen Kontext. Das Scheiteljahr, in dem sich China öffnete, Khomeini in Iran den Gottesstaat ausrief, die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte und die Grünen kurz vor ihrer Gründung standen, hat mit der Gegenwart mehr zu tun, als einem unmittelbar bewusst wäre.

Die Liste der Beck-Autoren, die sich in ihren aktuellen Arbeiten von Aufklä­rungs­idealen leiten lassen, ist glanzvoll: Felken nennt stellvertretend die diesjährigen Friedenspreisträger Aleida und Jan Assmann mit ihren Werken zum kulturellen Gedächtnis, Navid Kermani, "einen Intellektuellen von europäischem Rang und unersetzlichen Vermittler zwischen den Kulturen und Religionen" sowie den Historiker Heinrich August Winkler als "klassischen" Repräsentanten aufklärerischer Geschichtsschreibung (der demnächst seinen 80. Geburtstag feiert) – in Felkens Augen zugleich "der erfahrenste Kommentator politischer Entwicklun­gen, den wir in Deutschland haben".

Ein Aufklärer neuen Typs, der vernetzt und multidisziplinär denkt, ist für den Cheflektor des Verlags Bestsellerautor Yuval Noah Harari. Sein breiter historischer Ansatz, der auch Erkenntnisse aus Biologie, Geografie und technischen Disziplinen einbeziehe, sei "der Vorschein einer Wissenskultur des 21. Jahrhunderts, für die eine Kenntnis dessen, was in den Naturwissenschaften und der Technik vor sich geht, ganz selbstverständlicher Teil der Allgemeinbildung ist", so Felken. Harari gehört zu den Autoren, die auch eine Vision für die Zukunft der Spezies Mensch haben und das utopische Potenzial ausloten: In "Homo Deus" (jetzt auch als Taschenbuch lieferbar, 653 S., 14,95 Euro) stellt er Überlegungen dazu an, wie sich der technisch verstärkte Mensch selbst auf eine neue Stufe der Evolution heben könnte.

Nicht nur, weil die "aufklärerischen Werte" derzeit so bedroht seien, nehme man das Thema Aufklärung sehr ernst, so Alexander Roesler, Lektor für Sachbuch und Wissenschaft bei S. Fischer, sondern auch vor dem Hintergrund der eigenen Verlagsgeschichte, die selbst von Vertreibung, Exil und Krieg geprägt sei. Der Verlag, zu dessen Rechtefundus auch die "Dialektik der Aufklärung" (288 S., 12 Euro) von Adorno und Horkheimer gehört, hat bereits im Herbst ein starkes Ausrufezeichen gesetzt: mit Steven Pinkers großer Verteidigungsschrift "Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt" (736 S., 26 Euro). Ende Februar 2019 folgt dann Harald Welzers neues Buch "Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen" (320 S., 22 Euro), das in realistischen Szenarien konkrete Zukunftsbilder entwirft.

Zu den Verlagen, für die aufklärerisches Denken in allen Programmen konstitutiv ist, gehört natürlich ebenso Suhrkamp, wie ein Blick in die Frühjahrsvorschauen bestätigt. So ist für Mai 2019 ein neuer Titel von Andreas Reckwitz angekündigt, dessen 2017 erschienenes Buch "Die Gesellschaft der Singularitäten" zum Bestseller wurde. In "Das Ende der Illusionen" (ca. 150 S., ca. 14 Euro) arbeitet der Soziologe die Strukturmerkmale der (spätmodernen) Gegenwart heraus, in der neue Polarisierungen und Paradoxien zutage treten. Im selben Monat erscheint Paul Masons neues Buch auf Deutsch: "Klare, lichte Zukunft" (ca. 500 S., ca. 28 Euro) – ähnlich wie Pinkers Buch eine "radikale Verteidigung des Humanismus", so der Untertitel.

Einen Aufklärungsschub für Zeitgenossen hat sich der neu aufgestellte Verlag Nicolai Publishing & Intelligence auf die Fahnen geschrieben. Unter dem Claim "Dare to know" arbeiten die Autoren des Verlags alle Felder ab, in denen Aufklärung eine Rolle spielt. Programmatisch steht dafür das Buch des Züricher Philosophen Michael Hampe, "Die Dritte Aufklärung" (96 S., 20 Euro). Es plädiert für eine Gesellschaft, die Bildungsprozesse in Gang setzt, an deren Ende gemeinschaftlich realisierte Zukunftsprojekte stehen – und eine Gesellschaft, die nicht autoritären Verführungen oder der Faszinazion der Gewalt erliegt.

Auch der Westend Verlag in Frankfurt am Main setzt mit seinem kritischen, undogmatisch-linken Programm aufklärerische Energien frei. So beispielsweise in dem 2016 erschienenen Buch "Lückenpresse" von Ulrich Teusch (224 S., 18 Euro), das nachweist, wie viele gesellschaftlich relevante Themen in den etablierten Medien gar nicht vorkommen. Seinen Mainstreamvorwurf begründet der Autor jedoch mit strukturellen Defiziten – und nicht, wie der laute "Lügenpresse"-Chor – mit bewusster Verfälschung und der Verheimlichung von Tatsachen.

Geradezu als Einladung zum "Sich-Aufklären" bietet sich den Lesern im März 2019 ein Buch von Alexander Unzicker an: "Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur" (Westend, 240 S., 22 Euro).

Aufklärerisches Denken spielt auch in den Sachbuchprogrammen vieler anderer Verlage eine Rolle, so etwa der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Im Januar 2019 erscheint etwa bei wbg ­Theiss ein neues Buch der amerikanischen Philosophin und Rechtswissenschaftlerin Martha Nussbaum. In "Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Krise" (304 S., 28 Euro) befasst sie sich mit der emotionalen Seite der Globalisierung – und zeigt, wie das Gefühl der Ohnmacht bei vielen Menschen Ressentiments weckt und Spaltungs- und Ausgrenzungstendenzen befördert.

Schaut man sich Europa an, wie dies der polnische ­Politikwissenschaftler Jan Zielonka in seinem neuen Buch bei Campus unternimmt, dann ist man alarmiert. In Teilen Europas sei eine Konterrevolution im Gange, die die Freiheitsbewegung der frühen 90er Jahre auf den Kopf stellt, so der Autor. Schuld seien die politischen Eliten, weil sie marktradikalen Konzepten gefolgt wären, die die liberale Gesellschaft verraten hätten. Zielonka spricht sich vehement für eine offene Gesellschaft aus und fordert eine Neuerfindung Europas ("Konterrevolution. Der Rückzug des liberalen Europa", ca. 200 S., 19,95 Euro).

Nussbaums und Zielonkas Plädoyers reihen sich ein in zahlreiche Publikationen, die das Modell der aufgeklärten, liberalen Gesellschaft verteidigen und zeigen, wie man sie bewahren oder weiterentwickeln kann. Dazu gehört im Februar 2019 auch Stefan Brunn­hubers Buch "Die offene Gesellschaft", ein "Plädoyer für Freiheit und Ordnung im 21. Jahrhundert" (oekom, 176 S., 20 Euro). 

Im selben Verlag sind zwei weitere Bücher angekündigt, die sich mit konkreten Schritten in eine bessere, gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft beschäftigen: "Das gute Leben für alle! Wege in die solidarische Lebensweise", herausgegeben vom I. L. A.-Kollektiv (144 S., 20 Euro) – wobei die Abkürzung für "imperiale Lebensweise und Ausbeutungsstrukturen im 21. Jahrhundert" steht – und Oliver Richters' und Andreas Siemoneits Buch "Marktwirtschaft reparieren. Entwurf einer freiheitlichen, gerechten und nachhaltigen Utopie" (ca. 192 S., 17 Euro), das konkrete Lösungen für eine gerechtere Wirtschaftsordnung vorschlägt.

Mit dem Problem des "postfaktischen Zeitalters", dass Privatwahrheiten an die Stelle kollektiv geteilter Weltdeutungen treten, befassen sich ebenfalls einige Frühjahrsnovitäten. Klett-Cotta kündigt für April 2019 "Der Tod der Wahrheit. Gedanken zur Kultur der Lüge" von der amerikanischen Literaturkritikerin und Autorin Michiko Kakutani (ca. 200 S., 20 Euro) an, Reclam für März 2019 Jan Skudlareks Darstellung "Die ganze Wahrheit und andere Lügen. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist" (ca. 200 S., ca. 18 Euro). Ein Buch, das Orientierung bietet im Dschungel toxischer Narrative und Verschwörungstheorien, die den gesellschaftlichen Diskurs unterminieren.

Ein ausführliches Interview mit dem Sozialpsychologen, Soziologen, Direktor von Futurzwei und Professor für Transformationsdesign Harald Welzer zu diesem Thema finden Sie im hier.
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