Glosse von Jochen Jung

Leipziger Leser

21. März 2016
von Börsenblatt
In Leipzig wird nicht nur viel vorgelesen. Der Verleger Jochen Jung beschäftigt sich in seiner Glosse mit denen, die in Leipzig zu Hause auf dem Sofa oder im Museum an der Wand stumm lesen.

Ja, Leipzig liest, wir Messegeher wissen das, und wir wissen auch, dass es eigentlich heißen müsste: Leipzig hört, denn es lesen ja überwiegend Nicht-Leipziger den Leipzigern etwas vor, und die hören dann zu. Und das in diesem Jahr etwa 3.619 mal (die Zahl schwankt etwas, naturgemäß). Es hat eigentlich das Ausmaß einer Naturkatastrophe, ist aber sehr schön. Meistens.

In Leipzig wird aber auch viel stumm gelesen, und das nicht nur wenn die Leipziger sich zu Hause mit ihrem Buch aufs Sofa setzen. Vielleicht hört man gerade noch den Korken aus der Flasche ploppen, dann ist Stille, oder sogar die einzigartige Ruhe, die einen überkommt, wenn man etwas liest, dem man zustimmen kann, weil es wahr ist und womöglich auch noch schön.

Es gibt übrigens noch ein weiteres stummes Lesen in Leipzig, zum Beispiel im Museum für bildende Kunst. Immer schon haben die Maler die Heiligen gern umgeben von Folianten vorgeführt, zum Zeichen, dass der Glaube nicht nur was für die Ahnungslosen ist, vielmehr beglaubigt, in Büchern. Nicht zuletzt wird uns die Studierende Maria bei der Verkündigung ihrer Schwangerschaft gern mit einem Buch in der Hand gezeigt.

Aber es gibt auch Bilder von gar nicht heiligen Lesern im Leipziger Museum, etwa das große Bild „Arbeitspause", das Willi Sitte 1959 gemalt hat. Dort sieht man einen Bauarbeiter hoch oben in freier Luft, wo unsereinem schon schlecht vor Angst würde, lässig mit übereinander geschlagenen Beinen sitzen: In der Rechten hält er die Zigarette und in der Linken mit dicken Fingern ein Buch, in dem er blättert, um die Stelle wiederzufinden, bei der er nach der letzten Arbeitspause unterbrechen musste, oder die, die ihm letztes Mal so gut gefallen hatte. Jedenfalls weiß dieser Arbeiter, wenn er mal nicht arbeiten muss, offenbar nichts Besseres zu tun als ein Buch zu lesen.

Glauben wir das? Nein, unsere Erfahrung mit Büchern und mit Arbeitern meint uns gelehrt zu haben, dass Bücher und Arbeiter nicht wirklich zusammenpassen und dass Willi Sitte damals in der DDR eine Utopie gemalt hat, einen Vorschlag, eine Hoffnung, gesehen hat er das nicht. Oder?

Ein paar Meter weiter im Museum trifft man auf eine kleine Gipsstatuette einer lesenden Dame der sogenannten besseren Gesellschaft, eine Arbeit des Pariser Künstlers Jules Dalou von 1872. Auch sie hat die Beine übereinander geschlagen und sie lächelt, als lese sie gerade Madame Bovarys lange Kutschenfahrt durch Rouen. Der Dame trauen wir das Lesen gern zu, dem Arbeiter eher nicht. (Während übrigens Sitte sein Bild dem Museum selbst gestiftet hat, wurde die Statuette vom Rat der Stadt erworben, dem damals offenbar guter Rat nicht zu teuer war.)

Wir sehen: Es gibt noch viel zu tun. An unseren Vorurteilen ist noch ebenso viel zu arbeiten wie an der Volksbildung, und wenn man etwas von der Kunst lernen kann, dann dass ohne Utopie nichts erreicht wird. Und ohne Bildung das ganze Buchwesen seine Grundlage und seinen Sinn verliert. Warum also nicht mal in Leipzig eine Ausstellung über Bildung und Buchkultur in den letzten so unterschiedlich damit umgehenden hundert Jahren. Oder gab es die schon?

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