Buchempfehlung: "Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch"

Stimme der Geschundenen

13. April 2017
von Holger Heimann
Wegen ihrer Zeitungsbeiträge wurde Aslı Erdoğan inhaftiert. Jetzt können ihre Texte in dem Essayband "Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch" auf Deutsch gelesen werden.

"Ich bin nur eine Schriftstellerin." Darauf hat Aslı Erdoğan immer wieder bestanden. Doch was heißt das? Zwar ist die türkische Autorin Lesern bei uns vor allem aufgrund ihrer Romane bekannt, aber sie schreibt schon immer auch über die politischen Zustände in ihrer Heimat. In den zurückliegenden Jahren sind ihre Essays in der kurdischen Tageszeitung "Özgür Gündem" erschienen. Das hat ihr den Vorwurf eingebracht, „Propaganda für eine illegale Organisation“ zu betreiben. "Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch" versammelt nun eine Auswahl dieser Zeitungsbeiträge.

Aslı Erdoğan beschreibt darin ein Land, das Krieg führt gegen die eigene Bevölkerung, in dem das Militär ohne Rücksicht auf Zivilisten kurdische Städte angreift: "Die unerträgliche Last, in Zeiten zu leben und zu schreiben, in denen in Kellern eingeschlossene Menschen – darunter Verletzte und Kinder – bei lebendigem Leib verbrannt werden ... Die entsetzliche Last der Sprachlosigkeit der Worte, Worte, die an die Stelle des Lebens treten ... Dieser Abgrund ist hier wie dort, in der Vergangenheit, der Zukunft, im Heute .... Wie sehr wir auch die Augen davor verschließen, wir werden den Anblick dessen, was sich in diesem beispiellosen Abgrund abspielt, nicht mehr los."

Es ist ein ungemein düsteres Bild der Türkei, das diese Essays transportieren. Aslı Erdoğan reiht bedrückende Szenen aneinander. Sie erzählt vom Leiden der Opfer, der stillen Trauer von Angehörigen – und dem kalten Zynismus von Folterern. Diese drastischen Essays machen dabei mit großer emotionaler Wucht deutlich, dass Verfolgung und Willkür bereits vor dem gescheiterten Militärputsch im Sommer vergangenen Jahres zum türkischen Alltag gehörten; dass es ein Kontinuum staatlicher Repression und Grausamkeit gibt: "Und die Zehntausenden, die Hunderttausenden von Folteropfern des Putsches vom 12. September 1980?", fragt die Autorin und fährt fort: "Menschen, die neunzig Tage lang mit Stromstößen gequält wurden, die in einen Autoreifen gezwängt und herumgerollt wurden, denen man die Fingernägel ausriss, denen man die Kehle mit brühend heißem Wasser verbrannte ... Wem sollen sie vergeben können und wie und vor welchem Gericht."

Solche Fragen sind typisch für diese Schriftstellerin. Immer wieder nimmt sie die Perspektive der Opfer ein, versucht Worte zu finden für das kaum Erträgliche. Ihr Nachdenken darüber, wie sich nach dem Erlittenen weiterleben lässt, führt historisch noch weiter zurück. Aslı Erdoğan erinnert an das Grauen von Auschwitz und immer wieder vor allem auch an den – in der Türkei noch immer geleugneten – Genozid an den Armeniern. Sie stellt dabei auch die Frage, wie mit Schuld umgegangen wird: "Wir haben in diesem Land ein furchtbares Verbrechen begangen, von dem die Überlebenden nur verschwommen als 'Große Katastrophe' sprechen dürfen, wir haben die Wurzeln eines Volkes ausgerissen. Wir haben die Männer verpflichtet in unseren Armeen zu kämpfen und Frauen und Kinder ohne Proviant auf nie endende Fußmärsche geschickt, um sie dort mit dem Schwert zu fällen. Aber die Schuld der Menschen liegt nicht nur in ihrem Handeln, sondern auch darin, in welcher Form sie sich ihr Handeln aneignen. Ein ungleich größeres Verbrechen haben wir begangen, indem wir verleugneten, was wir taten."

Für Aslı Erdoğan scheint es geradezu eine Pflicht zu sein, davon zu erzählen, was Menschen anderen antun und dem Leiden ein Gesicht, vielmehr viele Gesichter, zu geben. Sie schaut dabei nicht aus sicherer Entfernung auf Willkür und Ohnmacht. Sie ist vielmehr ganz nah bei den Menschen, spricht mit ihnen, hört ihnen zu. In jedem dieser Essays scheint so beinah zwangsläufig eine große Traurigkeit auf – doch zugleich sind die Texte auch ein Aufruf dazu, mit einer Tradition des Schweigens zu brechen.

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Das Urteil im Prozess gegen Aslı Erdoğan steht nach wie vor aus, ihr droht noch immer lebenslange Haft. Die Türkei darf sie vorerst nicht verlassen. Doch ihre Essays, die zuerst ins Französische übersetzt wurden, können nun – zumindest außerhalb der Türkei – gelesen werden. Sie sind Beleg für die Courage einer außergewöhnlichen Schriftstellerin.

Aslı Erdoğan: Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch. Essays, Knaus Verlag, 192 Seiten, 17,99 Euro