Fast 50 Jahre nach Oskar Matzerath wird wieder das Blech des infantilen Amoralismus getrommelt: »Zugegeben: Ich bin Patientin einer proktologischen Abteilung ...« Dabei freut man sich über Charlotte Roches Furor gegen die schöne blöde Heidi-Klum-Welt der glatt polierten Körperoberflächen. Ansonsten sind von Helen Memels selbstverliebtem Sekretfetischismus und ihrem spendablen Umgang mit den eigenen Bakterien wohl kaum erotische Ansteckungseffekte zu erwarten. Als role-model dürfte die Ich-Erzählerin der »Feuchtgebiete« ebenso wenig erlebt werden wie vormals der renitente Oskar.
Einige Feministinnen stellen beim Blick auf die Bestsellerliste allerdings beglückt fest, dass Charlotte Roche eine der ihren sei. Ob feministische Motivationen für die Leser eine Rolle spielen, ist fraglich. Es sind, nach verlässlicher Beobachtung, vor allem zwei Käufergruppen, die zur pinken Broschur greifen: die eher jüngeren Frauen und die eher älteren Herren. Kommt da zusammen, was zusammengehört?
Zusammengehören die »Feuchtgebiete« in mehr als einer Hinsicht mit Littells SS-Epos »Die Wohlgesinnten«. Beide Bücher unternehmen eine Überraschungsoffensive des Tabubruchs. Längst schien die Ästhetik der permanenten Grenzüberschreitung ja ausgelaugt und im Abseits angekommen. Dass es bei diesen beiden Romanen noch einmal funktioniert, hat stark mit den Kontexten der Autoren zu tun. Es kommt inzwischen sehr darauf an, wer welches »Tabu« ins Visier nimmt.
Littell konnte sich – als jüdischer Autor, der ein Vierteljahrhundert nach dem Holocaust geboren wurde – sehr weit vorwagen. Und die »Feuchtgebiete« würden ganz anders aufgenommen, wenn sie nicht von einer jugendfrischen Moderatorin, sondern von einem alten Schmierlappen geschrieben worden wären. Roches Aufsässigkeit sieht einfach gut aus. Dass sie ihre Heldin noch einmal zwölf Jahre jünger macht, verstärkt die gemischten Reize von Attraktivität und Ekel bei dem höchst koketten Balanceakt. Hygienedefizite und Hämorridalmiseren bei der Generation 50 plus blieben dagegen ohne solch schillernde Ambivalenz.
Krawallbücher sind nicht wirklich kalkulierbar. Das effektive Zusammenspiel von Thema und Autoren-Personality, das für explosive Authentizität sorgt, bleibt ein Glücksfall. Auf »Sex sells« oder »SS sells« lassen sich die beiden Romane jedenfalls nicht reduzieren. Gemeinsam ist ihnen eine sehr ernst zu nehmende Obsession des Körperlichen, sei es als Ästhetik des Schreckens oder als angestrengtes Lob des Kreatürlichen.
Der Körper mit all seinem organischen Geschmier und seinen Gerüchen wird von Littell und Roche so detailliert und krass wie möglich beschrieben. Der Hygieneverzicht, der bei Roche zur fixen Idee wird, ist bei Littell schockierende Realität des Kriegs. Wie sehr der »unsaubere« Körper, der vom Zivilisationsmenschen mit viel Mühe in zumutbarer Form gehalten wird, wie sehr der »groteske Leib« (Bachtin) heute zu irritieren vermag, verraten beide Romane in hohem Maß. So gesehen brechen sie keine Tabus, sondern machen sie deutlich.
Wer kauft in Ihrer Buchhandlung Roche und Littell?