Sichtet man die Neuerscheinungen des Sachbuchherbstes, hat man den Eindruck, dass viel alter Wein in neuen Schläuchen angeboten wird. Der Untertitel Ihres neuen Buches »Warum die Menschen sesshaft wurden« verspricht dagegen nicht weniger als die Lösung des »größten Rätsels unserer Geschichte«. Da horcht man auf.
Reichholf: Nun gut, zu den allergrößten Rätseln gehört die Werbung. Aber ich bin schon der Auffassung, dass mein Ansatz etwas Besonderes ist. Es geht ja darum, dass die Menschen als Gattung zwei Millionen Jahre erfolgreich existiert und sich von Afrika bis Ostasien verbreitet hatten und auch in der Steinzeit als Jäger und Sammler sehr erfolgreich lebten weshalb fingen sie dann aber an, den Ackerbau zu entwickeln und sesshaft zu werden? Die gängige Theorie geht davon aus, dass nach der letzten Eiszeit das Jagdwild plötzlich rar wurde, so dass es zu einem Ernährungsproblem kam. Nach dieser Vorstellung wurden Jäger zu Bauern, indem sie sich an den körnerfressenden Vögeln ein Beispiel nahmen und sich aus Gründen des Nahrungsmangels auf das Sammeln und Anbauen von Wildgetreide umstellten.
Und so war es also nicht?
Reichholf: Nein, der Übergang konnte so nicht funktionieren. Die Wildgräser sind zu rar und die Erträge viel zu gering; dazu durfte das Saatgut nicht angetastet werden. Das war also allenfalls ein Zubrot. Wenn von Anfang aber keine wesentlichen Ernährungsvorteile damit verbunden sind, wie konnte dann ein Prozess in Gang kommen, bei dem über Jahrtausende durch direkte menschliche Auslese Getreidesorten herangezüchtet wurden, die schließlich so ertragreich waren, dass man mit Bevorratung tatsächlich davon leben konnte? Diese lange Zeitspanne des Übergangs zu erklären darin besteht das eigentliche Problem.
Und wie war es nun in Wahrheit?
Reichholf: Vergleicht man die gängigen Theorien der Frühgeschichte mit dem, was wir über die Verbreitung von Tier- und Pflanzenarten vor etwa 10.000 Jahren wissen, dann zeigt sich: Das passt nicht zusammen. In genau der Zeit, in der sich der Ackerbau entwickelte, wurde das Jagdwild nicht seltener, ganz im Gegenteil. Die Ausbreitung von Steppen und Savannen, wo Gräser und Wildgetreide wachsen konnten, stimmt zugleich überein mit einer zunehmenden Häufigkeit der Jagdwildarten.
Dann hätten die Menschen doch weiter auf die gewohnte Fleischkost setzen können?
Reichholf: Genau. Man muss also von einer anderen Seite zu einer Erklärung kommen. Nehmen wir die eiszeitlichen Lebensverhältnisse hinzu. Wie man in der sibirischen Taiga noch heute sehen kann, muss es zudem ein überreiches Angebot an Beeren gegeben haben. Beeren sind aber nicht nur wichtig für die Kalorienzufuhr (Bären futtern sich damit ihren Winterspeck an) mit diesem stark zuckerhaltigen Nahrungsmittel verbindet sich auch die natürliche alkoholische Gärung, die im Tierreich von den Käfern aufwärts genutzt und genossen wird. Menschen, die in Gebieten leben, in denen es Beeren gibt, haben im Lauf der Evolution erheblich bessere Mechanismen zur Alkoholentgiftung entwickelt als Menschen außerhalb dieser Gebiete, und dasselbe gilt auch für die Leistungsfähigkeit der Lebern von Vögeln und Säugetieren.
Aber was hat das nun wieder mit dem Getreide zu tun?
Reichholf: Auch das Getreide wurde zunächst gesammelt, um durch Gärung in Tongefäßen alkoholische Getränke zu erzeugen, die zugleich nahrhaft waren. Die frühen Zeugnisse von Kultstätten und Töpferei bestätigen das ganz zwanglos. Am Beginn des Sesshaftwerdens stehen noch keine Dörfer, sondern einzelne Kultstätten, wo getrunken wurde.
Verstehe ich Sie richtig? Am Anfang des Ackerbaus und der neolithischen Revolution stand demnach nicht das Brot, sondern das Bier? Stand nicht die Notwendigkeit, Nahrung zu produzieren, sondern gewissermaßen der Überfluss?
Reichholf: Exakt. So wurde aus dem Wildgetreide ganz allmählich das Kulturgetreide. Hier machten die relativ kleinen Mengen, die zur Verfügung standen und die für die Ernährung gewiss nicht ausreichten, ja durchaus Sinn: Man konnte mit ihnen ein attraktives alkoholhaltiges Luxusgut erzeugen, das Bier. Am Anfang der Kultur steht der Überfluss und nicht der Mangel.
Geht es in Ihrem Buch in diesem Sinn auch um eine grundsätzliche Theorie der Kultur die demnach prinzipiell nicht aus Mangelsituationen hervorgeht?
Reichholf: Ja, so ist es, bis hin zur Entwicklung des Computers, der ja auch nicht entstand, weil wir so großen Mangel an Schreibgeräten hatten. Menschen konnten sich Dingen widmen, bei denen anfangs noch überhaupt nicht abzusehen war, dass daraus einmal ein Produkt entstehen würde, das für die breite Masse von Nutzen ist. Man hat auch hier gewissermaßen aus einer Überflusssituation heraus eine Entwicklung begonnen.
Auch in der Natur sind alle wichtigen evolutionären Neuerungen aus Überflussverhältnissen hervorgegangen. Die Vögel zum Beispiel kamen nicht zum Fliegen, weil ihre Vorläufer, die kleinen Reptilien, so sehr unter Mangelerscheinungen zu leiden hatten. Denen ging es gut, die hatten ein Überangebot an Insekten-Nahrung und mussten Eiweiß-Überschüsse entsorgen, produzierten deshalb immer größere Schuppen, aus denen dann Federn und Tragflächen entstehen konnten so dass schließlich die Entwicklung des Fluges einsetzen konnte. Als Evolutionsbiologe bin ich überzeugt, dass das Darwinsche System, nach dem Evolutionsprozesse aufgrund des Drucks der Umwelt entstehen, ein Missverständnis ist.
Das ist ja eine interessante These zum Darwin-Jahr! In Ihrem Buch kommen zur Evolutionsbiologie Archäologie, Paläozoologie, Kulturgeschichte der Töpferei, Vor- und Frühgeschichte... Sie verbinden verschiedene Disziplinen und scheuen nicht davor zurück, über die eigenen Fachgrenzen hinauszublicken.
Reichholf: Die positiven Reaktionen vieler Kollegen ermutigen mich dazu. Die sehen, dass das fruchtbare Überschneidungsfelder sind, wo alle Seiten profitieren können. Immer stelle ich mir die Frage: Wo sind Lücken in den eigenen Theorien, und wo eventuell Stärken anderer Erklärungsansätze?
Interdisziplinarität ist ja sehr beliebt in universitären Programmschriften. Aber manche tun sich schwer, wenn sie dann wirklich stattfindet.
Reichholf: Ja, die haben dann Angst, sie könnten von den anderen Fachleuten als Dilettanten kritisiert werden. Dagegen bin ich inzwischen immun. Meine Erfahrungen und meine fruchtbaren Kontakte mit Wissenschaftlern anderer Bereiche, wie sie sich etwa aus meiner Naturgeschichte des letzten Jahrtausends ergeben haben, zeigen mir: Es lohnt sich, solche Risiken einzugehen, weil man aufs Ganze gesehen nur gewinnt. Man fühlt sich als Naturwissenschaftler hineingehoben in eine neue Sphäre von Kollegialität, wenn man eine Fülle von Hinweisen und Befunden von anderen Seiten bekommt.
In Ihrer Naturgeschichte haben Sie sich auch mit den aktuellen Problemen des Klimawandels befasst. Zum neuen Buch passt der Hintergrund der gegenwärtigen Welternährungsdebatte. Gehen Sie auch darauf ein?
Reichholf: Ja, das wird am Ende angeschnitten. Denn jetzt tritt ja wieder verschärft die alte Konkurrenz auf zwischen Fleisch und Brot. Nun geht es aber nicht mehr nur darum, wie noch zu Zeiten von Kain und Abel, entweder die Früchte des Feldes oder das Fleisch zu opfern, sondern ein dritter Konkurrent ist hinzugekommen: die Energie. Es gibt die große Konkurrenz von Weideland, Energiepflanzen und Nahrungspflanzen.
In den diesjährigen Herbstprogrammen ist ein Trend zur umfassenden Natur- und Kulturgeschichte zu beobachten.
Reichholf: Ich habe den Eindruck, dass solche umfassenden historischen Themen heute mehr Interesse finden als noch vor zwanzig Jahren. Das hängt zum einen wohl mit der hierzulande verbreiteten Stimmung der Zukunftsscheu zusammen. Um so mehr wird dann Rückschau gehalten. Und das hat zweitens wohl auch mit der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft zu tun. Junge Leute interessieren sich für die Zukunft; die Alten blicken zurück in die Geschichte, nicht nur die eigene. Das merke ich immer wieder in meinen Vortragsveranstaltungen. Geht es um zukunftsrelevante Themen, etwa die Prognosen zum Klimawandel das interessiert die Jungen. Die verdienten alten Herren und Damen der Professorenwelt in der Akademie der Wissenschaften dagegen halten nicht viel von den Prognosen; die sind fast ausnahmslos skeptisch sie misstrauen ihnen aufgrund ihrer Erfahrung und müssen auch keine Forschungsanträge mehr schreiben.
Haben Sie schon ein neues Projekt?
Reichholf: Ja, ich arbeite bereits wieder an einem Buch, etwas ganz anderes. Es geht um die evolutionsbiologischen Hintergründe der Schönheit. Da bin ich seit Jahren dran.
Viel Glück dabei und danke für das Gespräch