Einen Vorwurf kann man der deutschsprachigen Literatur des Jahres 2008 nicht mehr machen: den der Provinzialität. Literarische Globalisierung heißt die Devise. Zwar gibt es nach wie vor Romane, die in Kreuzberg oder Niederbayern spielen. Aber wenn etwas ins Auge sticht, dann ist es die souveräne Welthaltigkeit, mit der erzählt wird. Das ist imponierend; das sorgt für Leseerlebnisse, wie man sie nicht alle Tage hat.
Ein ungeheures Buch hat Lukas Bärfuss geschrieben: eine fatale Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des großen Mordens in Ruanda. Es geht um Entwicklungshelfer, die in ihrer moralischen Indifferenz zu Komplizen der Schlächter werden. »Hundert Tage« ist jedoch kein Thesenroman über scheiternde humanitäre Missionen und das Schlechte des Guten. Bärfuss versteht sich auf szenische Vergegenwärtigung und symbolischen Mehrwert. Vor allem schöpft er die Möglichkeiten der Ich-Perspektive aus, indem er das Innenleben des Entwicklungshelfers David nach außen stülpt. Zwischen den Restspuren des Idealismus werden dabei unschöne Seelen-Innereien sichtbar. Dieser Roman, erzählt mit einem Unterton bösen, célinesken Spottes, entwickelt sich zur dunklen Spiegelung europäisch-afrikanischer Verhältnisse.
Düster-elegant
Sherko Fatahs Roman »Das dunkle Schiff« ist spannend wie ein klassischer Abenteuerschmöker und doch voll beklemmender Gegenwärtigkeit. Wenn man erst einmal den fulminanten »Prolog« gelesen hat, kann man das Buch kaum noch beiseitelegen: Eine idyllische Szenerie im kurdischen Nordirak; plötzlich kreist ein Militärhubschrauber über der Landschaft. Frauen werden aus der Luke gestoßen, segeln mit gebreiteten Armen durch die Luft. Ohne Fallschirm.
Immer wieder hat der Roman solche präzise erzählten Szenen, die sich einbrennen bei der Lektüre. Der junge Kerim wird von islamistischen Gotteskriegern verschleppt und erlebt die Angriffe der Amerikaner. Er beteiligt sich an Aktionen der Gruppe (darunter Massaker an der Zivilbevölkerung), bis ihm die Flucht nach Europa gelingt. Die 200 Seiten, die in der deutschen Hauptstadt spielen, beeindrucken durch ihren fremden Blick auf das Vertraute. Und es ist eine bittere Pointe des Romans, dass die Lehren des Fundamentalismus im Kopf des Migrations-Melancholikers Kerim erst in Berlin aufgehen.
Am Vorabend des jugoslawischen Bürgerkriegs beginnt Norbert Gstreins Roman »Die Winter im Süden«. Elektrisiert von den Nachrichten aus der kroatischen Heimat, macht sich ein alter Kämpfer bereit zur Rückkehr: ein leidenschaftlicher Kommunistenhasser, der sich 1945 vor den Racheorgien der Partisanen ins argentinische Exil retten konnte und seitdem auf seine Stunde gewartet hat. Vor allem durch das intensive Porträt dieses störrischen, beinahe erschreckend vitalen »Alten«, der von einer Privatarmee träumt und darüber den Sinn für die Realität verloren hat, beeindruckt der in einem düster-eleganten Stil geschriebene Roman.
Der Familienroman hat seit einiger Zeit Konjunktur. Mit heiler Welt hat das aber wenig zu tun, denn gerade der Familienroman verfolgt seit den »Buddenbrooks« mit geschärftem Blick die Verfallssymptome und Auflösungserscheinungen. Die Bücher dieses Jahres beweisen es aufs Neue.
Wilbur, der schmächtige und sehr wasserscheue Held von Rolf Lapperts Roman »Nach Hause schwimmen«, erlebt eine Familienkatastrophe nach der anderen. Als wollte der Autor beweisen, dass die Biografie eines 20-Jährigen bereits mehr bittere Fracht aufgenommen haben kann als die Vita eines Alten, belädt er Wilburs Lebenskahn aufs Äußerste, um ihn dann in ein existenzielles Bermudadreieck zwischen Irland, Schweden und den Vereinigten Staaten zu schicken, in dem Hoffnungen spurlos verschwinden und viele gutwillige Menschen Schiffbruch erleiden.
Lappert erzählt so fesselnd, dass man ihm (fast) alles abnimmt, die merkwürdigsten Lebenswendungen und die böswilligsten Zufälle. Dass die Handlung konstruiert wirkt, ist kein wirklicher Einwand. Der Autor hat seinem Helden einen Parcours der Schicksalsschläge gebaut und daraus ein großes Buch der verspielten Möglichkeiten und der zweiten oder dritten Chance entwickelt.
Übermächtiger Vater
In Martin Klugers Roman »Der Vogel, der spazieren ging« gibt es eine übermächtige Vaterfigur: Yehuda Leiser, den Sonnengott einer über die ganze Welt verstreuten Familie. Vor den Nazis und den Lagern konnte er sich hinüber in die Staaten retten, wo er als Kriminalschriftsteller Jonathan Still reich wurde. Sohn Samuel, der Ich-Erzähler, laboriert am Berühmter-Vater-Komplex und schlägt sich durch in Paris allerdings als einer von 29 Übersetzern seines Vaters. Der turbulente Plot des Romans erinnert an die Tradition der Screwball-Komödie à la Lubitsch; die Spache lässt an den extravaganten Stil Nabokovs denken.
Uwe Tellkamps Tausendseiter »Der Turm« liest sich, wenn man die sperrige Ouvertüre hinter sich gelassen hat, überraschend süffig und unterhaltsam. Es ist ein ostdeutsches Familienepos vor dem Hintergrund der Agonie der DDR. Mit gediegenem Realismus wird ein wenig bekanntes und beinahe archaisch anmutendes Biotop in allen Details inventarisiert: das Dresdner Bürgertum in bürgerfeindlicher Zeit, eine merkwürdig geschlossene Gesellschaft, in der tradierte Konventionen und Verhaltensformen länger bewahrt blieben als im Westen.
Fern liegt Tellkamp die komödienhafte Leichtigkeit, mit der Ingo Schulze in »Adam und Evelyn« die Ereignisse des Jahres 1989 aufbereitet und das Private und Politische miteinander verhäkelt. Das Handwerk der Damenschneiderei wirft hier ebenso viel erzählerisches Kapital ab wie das Spiel mit biblischen Motiven rund um den Mythos von Adam und Eva. Mit versöhnlichem Blick schildert Schulze ein weiteres Mal die heiklen Metamorphosen, die den ostdeutschen Landsleuten abverlangt wurden.
Uwe Timm bringt in »Halbschatten« die Toten des Berliner Invalidenfriedhofs zum Sprechen. Widerstandskämpfer, namenlose Opfer des Kriegsinfernos von 1945 und Nazi-Überzeugungstäter (Heydrich darunter) liegen dort dicht beieinander und kommen sich nun posthum ins Gehege eine faszinierende Idee; die Ausführung wirkt jedoch merkwürdig steril.
An Marcel Beyers Roman »Kaltenburg«, der die Lebensgeschichte eines charismatischen Tierforschers, Verhaltensbiologen und Angstspezialisten im Verlauf von zwei Diktaturen erzählt, bemängelten einige Kritiker die vogelkundlichen Exzesse, denen sich nicht nur Kaltenburg in seinem Dresdner Institut, sondern auch der biowissenschaftlich aufgeschlossene Autor Beyer hingibt. Andere aber urteilten hymnisch: »Wer den Roman gelesen hat, sieht die Krähen vor seiner Haustür mit anderen Augen.«
Umfangsstarke Gesellschaftspanoramen kommen auch von Hans Pleschinski und Norbert Niemann. In »Ludwigshöhe« geht es um eine Villa für Selbstmordkandidaten, in der am Ende Feste des Lebens gefeiert werden. Pleschinski entwickelt einen kauzig verplauderten, an Doderer erinnernden, ihn allerdings nicht erreichenden Humor. Mit großem moralischen Ernst hält Niemann in »Willkommen neue Träume« der orientierungslosen Gegenwart den Spiegel vor; die scharfe Kritik an der Oberflächenwelt der Waren und der Medien bleibt jedoch absehbar.
Diesen Vorwurf kann man Dietmar Daths evolutionstheoretischem Romanphantasma »Die Abschaffung der Arten« zumindest nicht machen. Es ist eine verwegene Utopie auf den Spuren von Morus und Orwell, eine geballte Ladung Zukunfts-Trash nach dem Vorbild Jules Vernes und Stephen Kings.
Fast alle nominierten Werke enthalten große Passionen, Affären oder Amouren, bis hin zu Martin Walsers poetischer Verklärung des liebesnärrischen alten Goethe. Judith Kuckart hat in »Die Verdächtige« eine Liebesgeschichte als Krimi inszeniert da kommt einer Frau der Freund ausgerechnet in der Geisterbahn abhanden.
Überspanntheit hat Methode in Iris Hanikas »Treffen sich zwei«. Hemmungslose Emphase und Sarkasmus, Hymnus und Ironie, das Duftige und das Deftige wechseln in diesem Roman so rasch wie die Gefühlslagen von Senta und Thomas eben ganz wie im richtigen Liebesleben.
Wenn hierzulande jemand mit Feuer im Herzen über die Liebe schreiben kann, dann Feridun Zaimoglu. »Liebesbrand« beginnt stark mit der Schilderung eines schweren Busunglücks in der Türkei. »Es ging ein kalter Windhauch über mein Gesicht und ich drehte mich in die Seitenlage, um besser sterben zu können ...«
Aber hallo, wir sind erst im dritten Absatz, und so stellt sich neben anderen Schaulustigen rechtzeitig eine engelsgleiche Frau ein, die David ins Leben zurückholt. Nur leider, wie Engel so sind, sie verschwindet wieder, kaum dass ihr Dienst verrichtet ist. Fortan kennt der Börsenmakler nur noch ein Ziel: Tyra wiederzusehen. Der Held dieses romantischen Road-Movies wird weiterhin geschunden, geschlagen und gequält, auf dass er immer zureichende Gründe für sein furioses Lamento habe.
Viel Grund zur Beschwerde hat auch Alexa, die Ich-Erzählerin in Karen Duves Roman »Taxi« nämlich über ihre nervtötenden Fahrgäste und penetranten Kollegen. Alexas Erlebnisse ergeben ein wenig menschenfreundliches Anekdoten-Arsenal. Anhaltend trübe Aussichten und eine Kunst der Grautöne sind jedoch genau das, was die Leser dieser Autorin erwarten.
Entspanntes Comeback
Auch Olga Flor spürt den Dissonanzen des Zwischenmenschlichen nach. In »Kollateralschaden« inszeniert sie eine Nachmittagsstunde im Supermarkt und schaut den Konsumenten unter die Schädeldecke, bis es zum Showdown in den Warenschluchten kommt.
Den inneren Monolog eines Inhaftierten hat Karl-Heinz Ott in »Ob wir wollen oder nicht« zu bieten. Leider bleibt die Faszinationskraft hinter der des grandiosen Schwadroneurs Friedrich Grävenich aus Otts letztem Roman »Endlich Stille« zurück.
Peter Handkes »Morawische Nacht« wurde als entspanntes erzählerisches Comeback gefeiert, mit überraschend selbstironischen Zügen. Wie dieser Roman stammt genau die Hälfte der nominierten Titel noch aus dem Frühjahr. Das ist bemerkenswert, weil das Schwergewicht üblicherweise auf der aktuellen Herbstproduktion liegt. Offenbar hatten wir einen starken Bücherfrühling, vielleicht ohne es recht gemerkt zu haben. Wer da etwas versäumt hat, bekommt jetzt gute Gelegenheit zum Nach-Lesen.