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Von Schauprozessen und Flugträumen

23. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
Der Historiker Karl Schlögel sprach mit Jens Bisky ("Süddeutsche Zeitung") über sein Buch „Terror und Traum. Moskau 1937“. Am gestrigen Montag wurde der diesjährige Träger des Preises zur Europäischen Verständigung in der Berliner Akademie der Künste am Hanseatenweg vorgestellt.
###WERBUNG### „Diese Welt war eine Schlangengrube“: Wenn Karl Schlögel spricht, fliegen die Bilder. Schauprozesse und Puschkin-Feste, Varieté und hysterische Massen, namenlose Gräuel und technische Flugträume – das Moskau des Jahres 1937 war von so grellen Kontrasten geprägt, dass der Historiker, wie er dem kleinen, feinen, begeisterten Publikum am Hanseatenweg erklärte, zunächst eine eigene Methodik und Sprache entwickeln musste, um diese Gegensätze in der erwünschten Weise aufeinander krachen zu lassen. „Das originellste und wichtigste Geschichtsbuch in einem Jahr, das sehr reich gewesen ist an originellen und wichtigen Geschichtsbüchern“ nannte Jens Bisky Schlögels Werk, das die titelgebende Gleichzeitigkeit von Terror und Traum umkreist. Dieses Jahr sei der Jury des Leipziger Buchpreises für Europäische Verständigung die Arbeit ganz besonders leicht gefallen, sagte der Leipziger Bürgermeister Georg Girardet, der mit dem Hinweis auf die eigentliche Preisverleihung auf der Leipziger Buchmesse noch nicht gratulierte, aber doch schon vorfreudige Stimmung aufkommen ließ. Das versammelte Berliner Geistes- und Kulturleben – unter den Gästen Christina Weiss, Christoph Hein und die Buchpreisträger Michail Ryklin und Bora Cosic – konnte dann miterleben, wie Karl Schlögel das gediegen-entspannte Ambiente des Hanseatenwegs in eine hochkonzentrierte Denkmaschine verwandelte. Wie der Historiker zur Sowjetunion kam, ist eine nicht minder spannende Geschichte: Schlögel, 1948 im Allgäu geboren, erzählte von seiner prägenden Schulzeit im Benediktinerkloster und den frühen, ersten Reisen in die Sowjetunion, mit der Schulklasse ein Jahr vor dem Abitur: „der Kindernahrungsfabrikant Hipp hat uns unterstützt“. Dazu kamen die ersten Lektüren, das Glück des Russischunterrichts und die Kriegserfahrungen des Vaters. Das Sowjetische hat mich nicht so attrahiert“, berichtet Schlögel, „das waren eher die trotzkistischen, anarchistischen und maoistischen Positionen.“ Das Moskauer Terrorjahr 1937 als Schauplatz der europäischen Geschichte: Die Frage, wie so etwas überhaupt möglich war – die Selbstzerstörung einer Führung, ein kollektiver Wahn, dem Millionen von Menschen zum Opfer fielen – wurde in der Zeit zwischen 1985 und 1989 erneut virulent: In der Sowjetunion brach ein unglaublicher Redestrom los, berichtet Schlögel über seine weit in die achtziger Jahre zurückreichenden Pläne für dieses Buch: „Das war der Pfeil, der irgendwann saß. Ich wusste, dass diese Geschichte irgendwann drankommt.“ Von den vermeintlich sicheren Unterscheidungen zwischen Wahn und Wirklichkeit, Fakten und Fiktion muss man sich – um die Sprengkraft des Jahres 1937 zu begreifen – ebenso verabschieden wie von unseren Alltagsvorstellungen. Bisky erinnerte daran, dass Minustemperaturen von 30, 40 Grad die sowjetische Realität prägten, und Schlögel führte weiter aus, dass völlig neue Koordinatensysteme und Denkoperationen vonnöten seien – um eine historische Situation zu verstehen, die unsere Vorstellungen von Ordnung und organisierter Macht gänzlich überschreite. Zuletzt benannte Schlögel einen wissenschaftsgeschichtlichen Skandal: Dass sich die einen immer nur für Terror und Totalitarismus, die anderen nur für die Alltagsgeschichte interessierten, hat wohl lange Jahre verhindert, dass man die Ereignisse des Jahres 1937 in ihrer krassen Gegensätzlichkeit zusammendenken konnte. Im Clubraum der Akademie feierte man – bei Brezeln und Wein – dann weiter vor. Und stimmte sich schon mal auf die Leipziger Preisverleihung ein.