Meinung

Immer noch schneller

23. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
Im Turbotempo vergessen Redaktionen die guten Sitten, die Rowohlt anmahnt. In anderen Branchen aber sind Vertragsstrafen gang und gäbe. Von Konstantin Wegner.
Die Buchverlage befinden sich in einem Konflikt. Das zeigt auch der jüngste Fall um die nicht eingehaltene Sperrfrist für die Rezension von Daniel Kehlmanns »Ruhm«. Einerseits sollen Zeitungen und Zeitschriften, allen voran die »Leitmedien«, über die frisch verlegten Bücher schreiben und berichten. Andererseits möge dies – wenn schon inhaltlich keine Einflussnahme möglich ist – nicht zu einem beliebigen Zeitpunkt, schon gar nicht vor Erscheinen des Buches erfolgen. Angesichts knapper Werbebudgets ist die Pressearbeit unentbehrlicher Bestandteil der Absatzbemühungen der Buchverlage. Doch einseitige und damit rechtlich unverbindliche Appelle, die »Sperrfristen« doch bitte einzuhalten, verhallen schon seit Längerem ungehört in den Redaktionsgängen der großen Zeitungs- und Zeitschriftenhäuser. Der atemlose Wettlauf, immer noch schneller, aktueller und aufsehenerregender zu berichten als der Konkurrent, lässt die Zeitungs- und Zeitschriftenverlage im Turbo­tempo alle guten Sitten vergessen. Es ist daher nur allzu verständlich, dass Buchverlage zu, auf den ersten Blick, drastischen Mitteln greifen und – wie es offenbar der Rowohlt Verlag getan hat – die Einhaltung der Sperrfristen per Vereinbarung mit der Androhung saftiger Vertragsstrafen verknüpfen. Waren solche Geheimhaltungsverträge mit Strafzahlungen zur Durchsetzung von Sperrfristen bisher eher unüblich, so sind sie für den Juristen in anderen Be-reichen keineswegs etwas Exotisches. Ob potenzielle Unternehmenskäufer, Vertragspartner beim Austausch von Betriebsgeheimnissen oder Teilnehmer von Talent- oder Realityshows: Sie alle müssen häufig derartige strafbewehrte Stillhalteklauseln unterschreiben – und sich daran halten. Mindestens genauso üblich ist aber auch der Versuch, sich hinterher im Streitfall der Verpflichtung unter allerlei Windungen zu entziehen. Dabei steigt gewöhnlich die Kreativität der Ausflüchte mit der Höhe der zu erwartenden Vertragsstrafe. Der Versuch des »Spiegels«, den Artikel eher als Autorenporträt denn als vereinbarungswidrige Rezension einzuordnen, dürfte zumindest in diese Kategorie kreativer Rabulistik fallen, wurde doch in besagtem Artikel Daniel Kehlmann in wenigen einleitenden Absätzen skizziert, bevor sich der »Porträtist« ausführlich dem jüngsten Werk einschließlich Inhaltsangabe und Kritik einzelner Geschichten hieraus zuwandte. Die dürfte er – woher wohl sonst – aus dem vorab zugesandten Rezensionsexemplar entnommen haben. Mit viel mildem Wohlwollen gegenüber dem »Spiegel« könnte man sagen, dass bei diesem Porträt der Autor ganz aus seinem aktuellen Werk heraus charakterisiert wurde. Rowohlt hätte nun die Sache mit hanseatischer Zurückhaltung auf sich beruhen lassen können. Stattdessen wurde Klage eingereicht und damit – zumindest im Bereich der journalistischen Sperrfristen – juristisches Neuland betreten. Vieles ist hier noch rechtlich ungeklärt, und auch dieser Fall wird seine Unwägbarkeiten haben. So steht es zum Beispiel in dem Ermessen des Gerichts, die Vertragsstrafe auf ein ihm »angemessen« erscheinendes Niveau festzulegen – und was Gerichte bisweilen unter Angemessenheit verstehen, das haben die Verlage an anderer Stelle schon schmerzhaft zu spüren bekommen. Sollten Medien mit einer Strafe belegt werden, wenn sie Rezensionen vor Ablauf der Sperrfrist veröffentlichen?