Preis der Leipziger Buchmesse

Qualitätsprodukte aus dem beschädigten Leben

23. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
Für den Preis der Leipziger Buchmesse sind sechs Romane nominiert, die von gescheiterten Karrieren, Träumen, Beziehungen, kurzum: vom Leid des Misslingens erzählen. Die Autoren sind davon ausgenommen.
Aufgabe der Schriftsteller sei, sich täglich in die Sprechstunde des Schmerzes zu begeben, schreibt Wilhelm Genazino in einem Essay. Sie seien die »Vorturner des Scheiterns«, deren literarische Akrobatik es anderen ermögliche, über ihr stumm gebliebenes Misslingen nachzusinnen und sich ein wenig von ihrem Schicksal zu distanzieren. Wann wäre solches Vorturnen mehr am Platz gewesen als in diesen Monaten, wo so einiges schiefgeht und viele Menschen Erfahrungen des Misslingens ausgesetzt sind, von denen sie sich dringend ein wenig distanzieren möchten? Von daher geht es sehr in Ordnung, dass in diesem Jahr sechs Werke für den Preis der Leipziger Messe nominiert sind, in denen das Scheitern mit Bravour vorgeturnt wird. Da ist zunächst Genazinos eigener Roman, ein Qualitätsprodukt aus dem beschädigten Leben. Schon der Titel klingt wie Programm­musik: »Das Glück in glücksfernen Zeiten«. Fiel dem Helden von Genazinos vorangegangenem Roman in einer Sportlerkneipe unversehens ein Ohr ab, sind auch beim neuen Ich-Erzähler Gerhard Warlich wichtige Teile der eigenen Identität nicht gut befestigt; er leidet an »vorzeitiger Ermüdung« und allgemeiner Überempfindlichkeit. Passend zum Namen ist er promovierter Philosoph, beruflich allerdings nicht als Taxifahrer, sondern als Geschäftsführer einer Groß­wäscherei unterwegs. Gern würde er eine »Schule der Besänftigung« gründen; von der Stadtverwaltung bekommt er aber nur die Förderung für eine Pop-Akademie. Wie noch alle Genazino-Protagonisten ist er ein unermüdlicher Beobachter und Belauscher der Mitwelt. Und so findet man wieder viele originell formulierte Frankfurter Flaneurwahrnehmungen und gedehnte Blicke im städtischen Getriebe. Das herumstreunende Beobachten ist für Genazinos Helden lebenswichtig: als Psychotechnik, die die Depression abführt. Nur, diesmal nützt das alles nichts, denn Warlich wird am Ende von seiner Lebensgefährtin in die Psychiatrie verfrachtet. Traudels Kinderwunsch und die unverhoffte Entlassung haben das mühsam stabilisierte Seelengleichgewicht zerstört. Vor kunsthandwerklicher Melancholie-Routine wird der Roman bewahrt durch die Verschärfung ins Psychopathische, mit der auch der Humor ein Stück weiter ins Untröstliche vorangetrieben wird. An Trost mangelt es auch der Hauptfigur in Julia Schochs Roman »Mit der Geschwindigkeit des Sommers«. Das Buch ist das Requiem auf eine Schwester. Wie in ihren Erzählungen liegt Schochs Stärke vor allem in der atmosphärischen Beschreibung einer Region: östliche Sand- und Seelandschaft mit Plattenbauten und Kasernen. Viel Militär ist dort stationiert zuzeiten des Sozialismus; der Krieg wird geprobt, abends steigen die Leuchtraketen in den Himmel, und jeder weiß: Das ist das Tun des Friedens, wichtig für die Menschheitszukunft. »Der Soldat« – unter dieser kahlen Bezeichnung firmiert der Geliebte der Schwester, einer Emma Bovary aus Mecklenburg. Die Ehedepression verbindet sich mit dem politischen Missglücken. Beeindruckend schildert Schoch, wie der Aufbruch von 1989 versandet und die Lethargie sich in den verfallenden Plattenbauten ausbreitet – wer dableibt, hat schon verloren. Dieser kleine Roman ist ein Buch über den Traum vom Fortgehen und die fehlende Kraft, ihn zu verwirklichen. Am Ende schafft es die Schwester bis nach New York – um sich dort umzubringen. Schoch zeichnet menschliche Beschädigungen auf, die von keinem System zu kurieren sind – Geschichte als unheilbarer Fall. Scheitern muss keine Privatangelegenheit bleiben; es kann auch ins Große gehen. Als »failed state« in Europa präsentiert sich Bulgarien: Dorthin macht sich Sibylle Lewi­tscharoffs Heldin auf die Reise, um die eigenen Wurzeln zu erkunden. »Apostoloff« – das ist der geduldige Chauffeur, der die Ich-Erzählerin und ihre Schwester quer durchs Land der Vorfahren kutschiert. Der Vater, der sich erhängte, ist das Leitfossil der Erinnerungsarbeit; aber auch die Mutter, die »alkoholisierte Rauchkanaille« und »Fingerphilosophin« kommt zu ihrem Recht. Gerade weil zwischen Stuttgart und Sofia so schwer zu vermitteln ist, führt die bulgarische Misere den Roman immer wieder an die Schwarzmeerküste des Humors. Etwa bei der Beschreibung echt bulgarischen Essens: »Rötlicher Matsch mit einer kräftigen Beimischung von Schmieröl ...« Ein durchgeknallter Bulgare namens Grigorij kommt auch in Andreas Maiers »Sanssouci« vor. Es kommt überhaupt sehr viel vor in diesem Roman, der auf den Spuren Dostojewskis und mit einer kräftigen Prise Evangelium der profan- verlogenen Gegenwart (rundum sans souci und unverzweifelt) den Zerrspiegel vorhält. Mit seiner an Thomas Bernhard geschulten Poetik des Geredes nimmt sich Maier den sozialen Kosmos der »Oststadt« Potsdam vor. Und Potsdam ist überall. Obdachlose, Trinker, Verwirrte und andere Schwarzfahrer der falschen Gesellschaft werden kontrastiert mit dem bieder-blöden Angestelltenmilieu der Kulturbürokratie. Die deutsche Alternativkultur wird in ihrer Beflissenheit ebenfalls auf die Schippe genommen. Nicht zuletzt bietet »Sanssouci« die plakative Karikatur einer alleinerziehenden Frau: Die ökologisch korrekte Bio-Mutter Merle Johansson, die als Unterhalts-Vampirin von diversen Männern lebt, arbeitet des Nachts, wenn der kleine Jesus schläft, als handschellenbewehrte Domina. Wie in Maiers letztem Roman »Kirillow« gibt es einen heiligmäßigen Protest-Russen, den orthodoxen Mönch Alexej mit seiner im Stadtbild auffallenden Kutte. »Sanssouci« ist wohl das umstrittenste Buch auf der Liste, die Reaktionen der Kritiker reichen von Bravo-Rufen bis zum Verriss als missglücktes »Wimmelbild«. Nach dem historischen Roman »Die Vermessung der Welt« kehrt Daniel Kehlmann an die vorderste Front der Gegenwart zurück, zur modernen Laptop- und Handy-Existenz, immer unterwegs und trotzdem jederzeit erreichbar – oder eben nicht. »Ruhm« ist ein Zyklus von neun Geschichten mit starken Verflechtungstendenzen zum Roman, ein gewitztes Spiegelkabinett, eine Erzählbühne mit doppeltem und dreifachem Boden.Das Buch wurde deshalb von einigen Kritikern als postmodernes Glasperlenspiel mit allzu flachen Figuren abgetan. Dabei geht es auch hier um Gestalten des Scheiterns und Misslingens. Von irritierenden Erfahrungen des Selbstverlusts und von Tücken und Funktionsstörungen der vernetzten Welt berichten Kehlmanns Geschichten. Der Autor wechselt die Stimmen und Tonlagen, bis hin zum grotesk übersteuerten Blogger-Slang, wenn der Internet-Nerd und manische Foren-Kommentator Mollwitz – die wohl erbärmlichste Figur der Saison – die desaströse Geschichte seines Auftritts in der wirklichen Welt erzählt. Es ist Kehlmanns schwarze Satire auf die »demokratische« Kommunika­tionsgemeinschaft im Netz: ein virtueller Mob, angetrieben von Paranoia und Geltungssucht. Zwischen den sonst schmalen Umfängen ist Reinhard Jirgls Roman »Die Stille« das kapitale Werk. Jirgl hat einen Ruf als literarischer Apokalyptiker, der von verheerten Lebensläufen erzählt. Wenn Genazino den gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang »light« in Szene setzt, bietet Jirgl die Hardcore-Variante: literarische Wut über die Machtverhältnisse, über die ökonomischen Zwangshandlungen und die »Bestie Mensch«. Auch hier ist die Sprechstunde des Schmerzes durchgehend geöffnet. Der Titel »Die Stille« scheint da wie reine Ironie. In einem Interview hat Jirgl denn auch schon zur Klarstellung auf den Komponisten John Cage verwiesen, für den der Raum zwischen Ton und Ton von Lärm erfüllt sei. Stille, so gesehen, ist wohl etwas Fürchterliches. Ungewöhnlich ist die Form des Romans: Ausgehend von 100 Fotografien zweier Familien, die eine aus Ostpreußen, die andere aus der Niederlausitz, wird ein komatöses Jahrhundertpanorama entwickelt: Weltkriege, Inflationshorror, Vertreibung, dazu viel Liebe und Verrat, und als Begleitmusik das Dröhnen aus den Katakomben der Historie und den Laboratorien der Zukunft. Wie im vergangenen Herbst Dietmar Daths evolutionäres Romanphantasma »Die Abschaffung der Arten« verrät Jirgls Roman ein wuchtiges Vorbild: Alfred Döblins »Berge, Meere und Giganten«, eine wilde, fabuliersüchtige literarische Utopie, die unter Schriftstellern (auch Grass bekennt sich dazu) offenbar Kultstatus besitzt. Wer wird nun gewinnen? Eine weitere Auszeichnung für den mit Ruhm verwöhnten Kehlmann erscheint derzeit überflüssig. Und Julia Schochs Roman hat über die verdiente Nominierung doch nicht ganz die Statur für den Buchpreis. So wird sich die Sache wohl wieder einmal entscheiden zwischen Suhrkamp- und Hanser-Kultur.